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Im Morgengrauen des ersten Frühlingstages wird die Ankunft der Sonne mit einer Begrüßungszeremonie gefeiert, die gewöhnlich der Ubar oder der Administrator der Stadt durchführt. Damit heißt die Stadt das neue Jahr willkommen. In Port Kar fällt diese Ehre Samos, dem ersten Kapitän des Kapitänrates, und den Vollzugsbeamten des Rates zu. Das Ende der Begrüßungszeremonie wird mit dem Schlagen der in der ganzen Stadt aufgehängten Signalstangen gefeiert. Dann strömen die Leute fröhlich aus ihren Häusern, die Brak-Büsche werden auf der Türschwelle verbrannt, und der Teer wird abgewaschen. Man veranstaltet Prozessionen und verschiedene Veranstaltungen wie Wettkämpfe und Spiele. Dieser Tag ist ein Feiertag.

Die Festlichkeiten stehen natürlich in krassem Gegensatz zu dem Ernst und den Entbehrungen der Wartenden Hand. Diese Tage des Fastens, Schweigens und der allgemeinen Trübsal sind für viele Goreaner – vor allem die Angehörigen der niederen Kasten – eine Zeit der Sorge und der Angst. Wer kann schon wissen, welche sichtbaren oder unsichtbaren Dinge in dieser schrecklichen Zeit umhergehen? Und so ist es nur folgerichtig, daß in vielen goreanischen Städten die Zwölfte Passage-Hand, die fünf Tage, die der Wartenden Hand vorangehen und die alle Goreaner mit Freude erwarten, die Zeit des Karnevals ist. Es waren nur noch zwei Tage bis zum Beginn des Karnevals, was die ungewöhnlich hohe Anzahl von Theater- und Gauklertruppen in der Stadt erklärte.

Schauspieler und Artisten müssen eine Bittschrift einreichen, wenn sie das Recht erhalten wollen, innerhalb der Stadtmauern aufzutreten. Normalerweise müssen sie eine Kostprobe ihrer Kunst oder eine Szene eines Theaterstückes darbieten, und zwar vor dem Hohen Rat oder einem Komitee, das vom Rat für diesen Zweck eingesetzt wird. Manchmal wird von den Schauspielerinnen eine Privatvorstellung erwartet, bei der ihre Künste von auserwählten Beamten ›geprüft‹ werden. Findet die Truppe Zustimmung, erhält sie für eine Gebühr die Auftrittserlaubnis.

Ohne dieses Dokument darf keine Gruppe innerhalb der Stadtmauern auftreten. Für gewöhnlich gilt die Erlaubnis für die fünf Tage einer goreanischen Woche, manchmal aber auch nur für einen bestimmten Abend oder eine Vorstellung. Innerhalb einer Spielzeit kann sie für eine sehr geringe Gebühr erneuert werden. Im Zusammenhang mit dieser Gebühr kommt es oft vor, daß Bestechungsgelder gezahlt werden. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Erlaubnis von kleinen Komitees oder Einzelpersonen wie dem Herren der Vergnügungen erteilt wird, den man auch Herrn der Lustbarkeiten nennt. Die Bestechungen finden nicht einmal im verborgenen statt. Es gibt sogar allgemein anerkannte Bestechungstarife, die sich nach der Art des Ensembles, seinen mutmaßlichen Vermögensverhältnissen, der Anzahl der für die Erlaubnis benötigten Tage und dergleichen mehr richten. Diese Dinge geschehen in aller Öffentlichkeit und sind allgemein bekannt; vielleicht sollte man sie nicht einmal als Bestechungsgelder bezeichnen, sondern als Dankesbezeugungen oder Verwaltungsgebühren. Mehr als nur ein Herr der Lustbarkeiten betrachtet sie als die ihm zustehenden Nebeneinkünfte seines Amtes.

Die Frau wehrte sich noch immer gegen den Griff der Wächter. Sie stampfte noch einmal mit dem Fuß auf. »Befiehl diesen Bauern trampeln, mich loszulassen!« verlangte sie.

Jetzt sah auch ich auf.

Die Augen oberhalb des Schleiers funkelten Samos wütend an. Dann richtete sich der Blick auch auf mich. »Sofort!«

Samos nickte den Wächtern mit einer kaum merklichen Kopfbewegung zu.

»So ist es schon besser!« sagte die Frau und riß sich mit einer wütenden Bewegung von den Männern los, so als hätte sie sich aus eigener Kraft befreien können, wenn ihr der Sinn danach gestanden hätte. Sie glättete ärgerlich die umhangähnlichen langen Seidenärmel. Ich erhaschte einen Blick auf anmutig geformte Unterarme und ein schmales Handgelenk. Sie trug weiße Handschuhe.

»Das ist eine Unverschämtheit!« rief sie. Ihre Füße steckten in winzigen goldenen Pantoffeln. Das seidig fließende Gewand der Verhüllung schimmerte im Licht der Fackeln. Sie ordnete das Kleidungsstück mit einer fast unbewußten, von natürlicher Eitelkeit verursachten Bewegung.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie. »Ich verlange auf der Stelle, freigelassen zu werden!«

Eines der Sklavenmädchen, das ein paar Schritte rechts von uns an einem Tisch kniete, nackt bis auf den Sklavenkragen, lachte laut. Dann erbleichte sie. Sie hatte eine freie Frau ausgelacht. Samos deutete auf einen Wächter und zeigte auf die unverschämte Sklavin. »Fünfzehn Schläge«, sagte er. Das Mädchen schüttelte entsetzt den Kopf. Der Wächter nahm sie und führte sie in den Hintergrund des Saales, wo er seinem Befehl nachkam.

Wir wandten unsere Aufmerksamkeit wieder der Frau in dem Gewand der Verhüllung zu, die vor unserem Tisch stand. Die Augen über dem Schleierrand zeigten einen besorgten Ausdruck. Die Bestrafung der Sklavin berührte sie. Ihr Atem ging heftiger, und ihre Brüste unter der Seide hoben und senkten sich auf durchaus hübsch anzuschauende Weise.

»Darf ich dir Lady Rowena aus Lydius vorstellen?« fragte Samos.

Ich neigte den Kopf.

»Lady.« Einer freien Frau bringt man beträchtliche Ehrerbietung entgegen, vor allem dann, wenn es sich um eine Frau wie Lady Rowena handelte, die offensichtlich von hohem Rang war.

Sie erwiderte den Gruß mit einem Nicken.

Lydius ist ein dichtbevölkertes, geschäftiges Handelszentrum an der Mündung des Laurius. Viele Städte unterhalten in Lydius Lagerhäuser und kleine Niederlassungen. Auf dem nach Westen fließenden Laurius werden viele Güter verschifft, darunter in der Hauptsache Holz, Holzprodukte und Häute, die dann in Lydius auf die Schiffe aller möglichen Städte und Handelsgesellschaften weiterverladen und in den Süden gebracht werden. Wie nicht anders zu erwarten, setzt sich die Einwohnerschaft von Lydius aus den unterschiedlichsten Rassen zusammen.

Lady Rowena richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie sah Samos wütend an. »Wieso wurde ich an diesen Ort gebracht?«

»Lady Rowena gehört zu den Kaufleuten«, erklärte Samos. »Das Schiff, auf dem sie eine Passage gebucht hatte, segelte von Lydius nach Cos, als es von zwei meiner Kaperschiffe aufgebracht wurde. Sein Kapitän erklärte sich freundlicherweise zu einem Umstauen der Ladung bereit.«

»Wieso hat man mich an diesen Ort gebracht?« wiederholte die Frau wütend.

»Du weißt sicherlich, welche Jahreszeit wir haben?« fragte Samos.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Wo sind meine Zofen?«

»In den Sklavengehegen«, sagte Samos.

»Den Sklavengehegen?« keuchte Rowena.

»Ja«, sagte Samos. »Aber du brauchst keine Angst um sie zu haben. Sie erfreuen sich bester Gesundheit – in ihren Ketten.«

Auf Gor sind die Sklavenhändler immerzu tätig, aber die Höhepunkte des Jahres sind Frühling und Frühsommer. Das hat mit solchen Dingen wie dem Wetter zu tun, außerdem sind die wichtigsten Märkte mit bestimmten Festen und Feiertagen verbunden wie zum Beispiel dem Liebesfest in Ar, das im Spätsommer stattfindet und alle fünf Tage der Fünften Passage-Hand in Beschlag nimmt. Natürlich finden in diesen Jahreszeiten auch die großen Sklaven-Auktionen auf den Jahrmärkten von En’Kara und En’Var statt. Das sind die beiden größten Sklavenmärkte Gors, die alle anderen weit übertreffen, was das Angebot der zu verkaufenden Frauen angeht.

»Ketten?« flüsterte Rowena. Sie wich zurück, eine Hand auf der Brust.

»Ja«, sagte Samos,

»Man hat mir eine Haube über den Kopf gezogen. Ich weiß nicht einmal, wo ich mich befinde.«

»Du bist in Port Kar.«

Rowena taumelte. Schon befürchtete ich, sie werde in Ohnmacht fallen.

»Wer bist du?« flüsterte sie.

»Samos. Der Erste Sklavenhändler von Port Kar.«

Sie schüttelte sich vor Entsetzen, ein leises Wimmern entschlüpfte ihren Lippen. Ich erkannte, daß ihr der Name Samos aus Port Kar nicht unbekannt war. »Welche Hoffnung habe ich?«

»Keine«, sagte Samos. »Nimm den Schleier ab.«