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»Die Menschen aus dem Sumpfland bedanken sich nie«, sagte Adelia entschuldigend, als sie mit ihrem Kind in den Kahn des Priors stieg und der Hund namens Wächter hinterdreinsprang, so dass Mansur allein in ihrem Ruderboot folgen musste, »aber sie vergessen auch nie. Sie waren dankbar, aber verwundert. Ihr wart einfach zu viel für sie, als wäre der Erzengel Gabriel in einem goldenen Lichtstrahl herabgestiegen.«

»Non angeli, sed angli, fürchte ich«, entgegnete Prior Geoffrey, und aufgrund seiner großen Zuneigung zu Adelia störte es ihn nicht im Geringsten, dass er, der er doch seit dreißig Jahren in Cambridgeshire lebte, von dieser Frau aus Süditalien über den Charakter des Sumpfvolkes belehrt wurde.

Schau sie sich einer an, dachte er, gekleidet wie eine Vogelscheuche, in Begleitung eines Hundes, der es erforderlich macht, die Bank zu desinfizieren, auf der er sitzt, drückt die klügste Frau ihrer Generation ihren Bastard ans Herz, glückselig, weil sie einer Mutter beigestanden hat, einen Balg in ihre ärmliche Welt zu setzen.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, von wem sie wohl abstammte, was sie ebenso wenig wusste wie er. Sie war von einem Ehepaar in Salerno aufgezogen worden, einem Juden und seiner christlichen Frau, nachdem sie sie an den Steinhängen des Vesuvs gefunden hatten. Ihr Haar war dunkelblond, wie man es mitunter bei Griechen oder Florentinern sah. Aber im Augenblick konnte es ohnehin niemand sehen, weil es unter dieser unsäglichen Kappe steckte.

Sie ist noch immer genauso merkwürdig wie bei unserer ersten Begegnung auf der Straße nach Cambridge, dachte Prior Geoffrey. Ich auf dem Rückweg von einer Pilgerreise nach Canterbury, sie auf einem Karren, begleitet von einem Araber und einem Juden. Ich hatte die Gelehrte in ihr nicht erkannt und sie für eine Metze gehalten. Doch als ich es vor Schmerzen nicht mehr aushielt und nur noch heulte – Gott, wie ich geheult habe und was für Schmerzen ich litt –, da war nur sie allein meine Samariterin, obwohl ich von lauter Christen umgeben war. Als sie mir an jenem Tag das Leben rettete, da degradierte sie mich, mich, zu einem stammelnden Jüngling, indem sie mit meinen intimsten Teilen hantierte, als wären sie nichts als Kutteln, die in den Kochtopf gehören. Und trotzdem finde ich sie schön.

Sie hatte, einem Befehl gehorchend, ihre Arbeit mit den Toten von Salerno verlassen und sich einer geheimen Mission angeschlossen, die unter Leitung des klugen Juden Simon aus Neapel herausfinden sollte, wer die Kinder in Cambridge tötete – eine Angelegenheit, die dem König von England großen Verdruss bereitete, weil er Aufruhr und somit schwindende Steuereinnahmen befürchtete.

Da England nun mal nicht das freigeistige Salerno war, musste Mansur, Adelias Diener, sich während der Ermittlungen als Arzt ausgeben und Adelia selbst seine Assistentin spielen. Der arme, brave Simon – obwohl er ein Jude war, schloss der Prior ihn in sein Gebet ein – war bei der Suche nach dem Mörder getötet worden, und auch Adelia wäre beinahe ums Leben gekommen. Doch der Fall war aufgeklärt und die Gerechtigkeit wiederhergestellt worden, und die Steuern flossen wieder in des Königs Staatskasse.

Adelias forensische Fähigkeiten hatten sich sogar als derart nützlich erwiesen, dass König Henry ihr für den Fall, ihrer Dienste wieder einmal zu bedürfen, die Rückkehr nach Italien verweigert hatte. Eine kleingeistige und gierige Undankbarkeit, wie sie typisch für Könige war, dachte Prior Geoffrey, wenngleich sie die Frau zu seiner Nachbarin machte, was für ihn Anlass zu großer Freude war.

Wie sehr ist ihr das Exil verhasst? Immerhin hatte sie keinerlei Lohn erhalten. Der König hatte nichts unternommen – nun ja, er war im Ausland gewesen –, als Cambridges Ärzte sie und Mansur aus Neid auf ihren Erfolg aus der Stadt hinaus in das öde Sumpfland gejagt hatten.

Kranke und leidende Männer und Frauen waren ihnen gefolgt und kamen noch immer, denn es war ihnen gleichgültig, ob sie von fremdländischen Ungläubigen behandelt wurden, Hauptsache, ihnen wurde geholfen.

Herr, ich fürchte um sie. Ihre Feinde werden sie verdammen. Werden in ihrem unehelichen Kind den Beweis dafür sehen, dass sie unmoralisch ist, werden sie vor das Gericht des Archidiakonats schleppen, um sie als Sünderin aburteilen zu lassen. Und was kann ich dagegen tun?

Prior Geoffrey stöhnte angesichts seiner eigenen Schuld auf. Was für ein Freund bin ich ihr denn bislang gewesen? Oder dem Araber? Oder Gyltha?

Bis zu dem Augenblick, als er selbst schon mit einem Bein im Grab stand und von Adelia in letzter Sekunde zurückgezerrt wurde, hatte er bezüglich der Wissenschaft die Haltung der Kirche vertreten, die lehrte, dass nur die Seele zählte, nicht der Körper. Physischer Schmerz? Er ist Gottes Wille, also nimm ihn hin. Forschung? Leichen sezieren? Experimente? Sic vos ardebitis in Gehenna, so werdet ihr in der Hölle schmoren.

Doch Adelia war erfüllt vom Ethos Salernos, wo arabische, jüdische und sogar christliche Denker sich weigerten, ihrer Suche nach Wissen Schranken aufzuerlegen. Sie hatte ihn belehrt: »Wie könnte es denn Gottes Wille sein, zuzuschauen, wie ein Mensch ertrinkt, wenn ihn ein ausgestreckter Arm retten könnte? Ihr wärt fast in Eurem eigenen Urin ertrunken. Hätte ich da die Hände in den Schoß legen sollen, anstatt Eure Blase zu erleichtern? Nein, ich wusste, wie es ging, und hab’s getan. Und ich wusste es, weil ich die vergrößerte Drüse bei Männern studiert habe, die daran gestorben sind.«

Ein seltsam sprödes kleines Ding war sie damals gewesen, unelegant, beinahe nonnenhaft, wären da nicht ihre fast wilde Ehrlichkeit, ihre Intelligenz und ihr Hass auf jeden Aberglauben gewesen. Zumindest hatte ihr die Zeit in England etwas gebracht, dachte er – eine größere Fraulichkeit, eine gewisse Weichheit und natürlich das Kind, Frucht einer Liaison, die ebenso leidenschaftlich und unangemessen gewesen war wie die zwischen Héloïse und Abaelard.

Prior Geoffrey seufzte und wartete darauf, dass sie ihn fragte, warum er, ein vielbeschäftigter und bedeutender Mann, aufgebrochen war, um sie zu suchen.

Mit Beginn des Winters hatten die Bäume im Sumpfland ihr Laub verloren, so dass die Sonne jetzt fast ungehindert auf den Fluss fiel und das Wasser die wilden Formen von kahlen Weiden und Erlen an beiden Ufern genau widerspiegelte. Adelia, die vor Erleichterung und Triumph gesprächiger war als sonst, nannte dem gleichmütigen Säugling auf ihrem Schoß die Namen der Vögel, die vor dem Bug des Kahns aufflatterten, wiederholte sie auf Englisch, Latein und Französisch und erkundigte sich übers Wasser hinweg bei Mansur, wenn ihr die arabische Bezeichnung nicht mehr einfallen wollte.

Wie alt ist mein Patenkind jetzt?, fragte sich der Prior amüsiert. Acht Monate? Neun? »Ein bisschen jung für den Fremdsprachenunterricht«, sagte er.

»Man kann gar nicht früh genug anfangen.«

Endlich blickte sie auf. »Wo fahren wir hin? Ich vermute, Ihr seid nicht so weit herausgekommen, weil vielleicht zufällig gerade irgendwo ein Kind getauft werden musste.«

»Es war mir eine Ehre, Medica«, sagte Prior Geoffrey. »Ich fühlte mich in den gesegneten Stall von Bethlehem versetzt. Aber nein, deshalb bin ich nicht gekommen. Dieser Bote …« Er gab jemandem, der in einem langen Umhang wie gebannt im Bug des Kahns gestanden hatte, ein Zeichen. »… ist mit einem Brief für Euch in der Priorei aufgetaucht, und da er gewisse Schwierigkeiten gehabt hätte, Euch in diesen Gewässern zu finden, habe ich mich bereit erklärt, ihn herzubegleiten.«

Außerdem wusste er, dass er zur Stelle sein musste, wenn die Einladung überbracht wurde, denn sie würde ihr nicht folgen wollen.

»Na los«, sagte Adelia, die sich ebenso wie Mansur durch Gyltha eine gewisse Respektlosigkeit angeeignet hatte. »Raus mit der Sprache.«

Der Bote war ein magerer junger Bursche, und Adelias finsterer Blick ließ ihn fast rückwärts taumeln. Außerdem starrte er mit offenem Mund den Prior an und fragte: »Ist das Lady Adelia, Mylord?« Immerhin ließ der Name eine Adelige vermuten. Er hatte würdevolles Auftreten erwartet, sogar Schönheit, das Schleifen eines Rocks über Marmor, nicht dieses unscheinbare Frauenzimmer mit Hund und Kind.