In der fast völligen Dunkelheit führte sie die Pferde um das Haus herum und zu einer niedrigen, aber sehr breiten Tür auf seiner Rückseite, die mit einem schweren Balken verschlossen war. Sie gebot Arri mit einer Kopfbewegung, ihr zu öffnen, und nachdem es dieser mit einiger Mühe gelungen war, hakte sie den Fuß um einen der Türflügel und zog ihn auf. Dahinter lag ein dunkler Raum unbekannter Größe, aus dem ihnen ein intensiver, aber nicht unbedingt unangenehmer Tiergeruch entgegenschlug; nicht nur der vertraute Geruch nach Kühen und Ziegen, sondern auch ein anderer, an den sich Arri in den zurückliegenden Tagen so sehr gewöhnt hatte, dass er ihr nicht mehr fremd erschien, obwohl er es im Grunde war: der Geruch nach Pferden. Der dunkle Raum, in den Lea die beiden Tiere am Zügel hineinführte, diente offensichtlich als Pferdestall.
Das war so ungewöhnlich wie das Haus selbst. Offensichtlich war ihre Mutter doch nicht die Einzige, die wusste, dass Pferde nicht nur herrlich anzusehende Geschöpfe waren, sondern auch von großem Nutzen. Sie fragte sich, wer dieses Geheimnis eigentlich von wem erfahren hatte, aber ihre Neugier ging nicht so weit, ihrer Mutter ins Innere des Stalls zu folgen. Leute, die Wölfe und Pferde hielten, mochten auch noch für ganz andere, viel unangenehmere Überraschungen gut sein.
Sie musste auch nicht lange warten. Lea kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück, schloss wortlos die Tür und legte ebenso wortlos den Balken wieder vor. Arri sah mit einem kurzen, aber heftigen Anflug von absurdem Neid, wie mühelos sie den schweren Stamm handhabte, unter dessen Gewicht sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
»Was sind das für Leute?«, fragte sie, während sie ihrer Mutter zurück zum Wagen folgte.
»Freunde«, antwortete Lea, wenn auch in einem Ton, der diesem Wort eine Menge von seinem warmen Klang nahm. »Trotzdem solltest du vorsichtig sein. Sprich mit niemandem und sag nichts, es sei denn, ich erlaube es dir.«
»Aber ich spreche ihre Sprache doch sowieso nicht«, antwortete Arri.
Ihre Mutter lachte kurz. »Oh, sie sprechen die gleiche Sprache wie wir, ungefähr wenigstens. Targan macht sich nur manchmal einen Spaß daraus, Fremde in einem Kauderwelsch zu begrüßen, das er sich wahrscheinlich selbst ausgedacht hat.«
»Aha«, machte Arri. Das klang genauso hilflos, wie sie sich nach der Antwort ihrer Mutter fühlte, und Lea lachte noch einmal, und diesmal echt. »Du wirst schon sehen. Aber jetzt hilf mir. Es sei denn, du bist ganz versessen darauf, noch länger hier draußen in der Kälte zu bleiben, statt an einem warmen Feuer zu sitzen und dich satt zu essen.«
Sie hatten den Wagen wieder erreicht. Lea lud sich zwei der schweren Bündel, die darauf lagen, auf die Schultern und reichte Arri das dritte, leichteste; was nicht hieß, dass es leicht war. Arri taumelte unter dem Gewicht des Gepäckstücks und musste rasch einen Schritt zur Seite machen, um nicht vollends das Gleichgewicht zu verlieren. Der Tag, den sie auf dem Wagen zugebracht hatte, hatte sie mindestens genauso viel Kraft gekostet, als wäre sie die ganze Strecke zu Fuß gegangen. Targan machte zwar einen gemächlichen Schritt zur Seite, um sie und ihre Mutter ins Haus zu lassen, rührte aber keinen Finger, um ihnen ihre Last abzunehmen, obwohl er ganz so aussah, als könne er sich alle drei Bündel auf eine Schulter laden, ohne ihr Gewicht auch nur zu spüren.
Dennoch atmete Arri so hörbar erleichtert auf, dass es ihr fast selbst peinlich war, als sie hinter ihrer Mutter durch die Tür trat.
Das Allererste, was sie spürte, war die Wärme. Die Luft hier drinnen war so rauchgeschwängert und stickig, dass sie anfangs das Gefühl hatte, kaum atmen zu können, aber sie spürte auch plötzlich, wie kalt es draußen geworden war. Ihr Gesicht und ihre Finger und Zehen fühlten sich an, als wären sie mit einer dünnen Schicht aus Eis überzogen.
»Legt eure Sachen einfach ab«, sagte Targan. »Ich kümmere mich schon darum.«
Arri gehorchte zwar, froh, das Gewicht des sperrigen Bündels los zu sein, setzte aber praktisch im gleichen Moment den Fuß darauf und sah ihre Mutter fragend an. Auch Lea hatte sich ihrer Last entledigt und wirkte so erleichtert, als hätte sie sie den ganzen Weg hierher auf den Schultern getragen und nicht nur wenige Schritte weit. Sie erwiderte Arris Blick auf eine besondere Art, aber in ihren Augen blitzte es fast spöttisch auf, was sie nicht verstand.
»Nimm es ruhig mit, wenn du Angst um dein Bündel hast«, sagte Targan belustigt. »Du kannst es aber auch hier lassen, und einer meiner Söhne kümmert sich darum, dass es sicher verwahrt wird - es sei denn, in dem Beutel da ist etwas, wovon du dich auf keinen Fall trennen kannst.«
Verwirrt sah Arri den großen Mann an. Zum ersten Mal konnte sie Targans Gesicht erkennen, aber es war ihr nicht möglich, ihn wirklich einzuschätzen. Er war tatsächlich noch größer, als sie geglaubt hatte, dabei aber so massig, dass seine Größe kaum auffiel. Sein Haar war so kurz geschoren, dass er fast kahlköpfig wirkte, und Arri hatte noch nie einen Mann mit so schmutzigem Gesicht und Händen gesehen. Auf den allerersten Blick machte er einen fast grimmigen Eindruck, aber er wirkte gleichzeitig auch auf eine schwer in Worte zu fassende Weise freundlich; ein Riese, der aussah, als zerbräche er manchmal nur zum Zeitvertreib Baumstämme, könne aber zugleich auch keiner Fliege etwas zuleide tun. Arri sah rasch zu ihrer Mutter hin, dann wieder in Targans Gesicht. Sie überlegte, ob sich in seiner vermeintlich scherzhaften Bemerkung vielleicht eine Anspielung verbarg, denn das Bündel, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, hatte tatsächlich gerade noch etwas enthalten, von dem außer ihr niemand etwas wusste: das Säckchen, das sie von Dragosz bekommen hatte.
Sie verscheuchte den Gedanken daran. Ihre Mutter konnte nichts von Dragosz’ Geschenk wissen, das sie sich soeben erst unter die Bluse geschoben hatte, und Targan schon gar nicht. Sie musste aufhören, hinter jeder harmlosen Bemerkung eine Anspielung und in jedem Scherz eine Falle zu vermuten. Vielleicht hatte ihre Mutter ja Recht gehabt, als sie sagte, dass sie in ihrem Bemühen, ihre Tochter Misstrauen zu lehren, möglicherweise zu erfolgreich gewesen war.
»Lass es ruhig hier«, sagte Lea. »Was in Targans Haus ist, ist sicher.«
»Ich... natürlich«, sagte Arri hastig und direkt an Targan gewandt. Dabei trat sie unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Es war nur...«
»... ein bisschen viel«, fiel ihr Lea ins Wort, allerdings genau wie sie an den riesigen Mann gewandt. »Für uns beide. Der Weg war sehr anstrengend.« Irrte sich Arri, oder versuchte ihre Mutter, ihr einen raschen, verstohlenen Blick zuzuwerfen? Sag nichts.
»Du warst lange nicht mehr hier«, bestätigte Targan. »Umso mehr überrascht mich dein Besuch. Wir hatten nicht vor dem nächsten Frühjahr mit dir gerechnet.«
Arri sah beunruhigt zu ihrer Mutter auf. Im nächsten Frühjahr? War Targans Haus etwa die erste Etappe auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat, wenn sie sich nach der Schneeschmelze vor Nors Nachstellungen in Sicherheit bringen würden?
»Wir mussten... unsere Pläne ändern«, antwortete Lea. Das fast unmerkliche Stocken in ihren Worten konnte Targan ebenso wenig entgangen sein wie Arri, und Lea machte es noch schlimmer, indem sie sich in ein verlegenes Lächeln und ein hoffnungslos übertriebenes Schulterzucken rettete. »Aber wir bleiben nicht lange.« Sie hob noch einmal die Schultern und fügte dann - fast zu Arris Entsetzen - hinzu: »Nur diese eine Nacht.«
»Vielleicht solltest du erst einmal ankommen, bevor du vom Gehen redest«, sagte Targan lächelnd. Er wandte sich direkt an Arri. »Du bist also Leandriis’ Tochter. Sie hat viel von dir erzählt. Aber sie hat nicht gesagt, dass du schon eine junge Frau geworden bist. Noch ein, zwei Sommer, und es wird schwer werden, euch zu unterscheiden.« Er machte einen halben Schritt zurück und maß Arri mit einem langen, von einem angedeuteten Kopfschütteln begleiteten, prüfenden Blick. »Ich habe eine Tochter in deinem Alter. Vielleicht sollte ich sie mir bei Gelegenheit doch einmal genauer ansehen. Für mich ist sie noch ein Kind, aber vielleicht stimmt das ja nicht.«