Allmählich wurde Arri das Gespräch peinlich. Fast feindselig starrte sie Targan an, von dem sie eher eine Frage zu ihrem ramponierten Äußeren erwartet hatte, statt dick aufgetragener Schmeicheleien, aber dieser lächelte nur.
Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, bückte sich ihr Gastgeber und lud sich sowohl Leas als auch Arris Bündel ohne die allermindeste sichtbare Mühe auf nur einen Arm; gleichzeitig deutete er mit einer Kopfbewegung tiefer ins Haus hinein. »Ihr müsst hungrig sein. Kommt. Ich hoffe doch, unsere anderen Gäste haben noch ein wenig übrig gelassen.«
Bei der Erwähnung der anderen Gäste fuhr Lea abermals fast unmerklich zusammen, und ein Ausdruck von Unmut erschien auf ihrem Gesicht, verschwand jedoch wieder, als sie sich Arris fragender Blicke bewusst wurde. Ungeduldig winkte sie ihre Tochter an ihre Seite und wollte losgehen. Sie befanden sich in einem kleinen Vorraum, der gleich drei Türen hatte - die ungewöhnlichste Konstruktion, die Arri jemals zu Gesicht bekommen hatte. Mit Ausnahme des kleinen Vorratsraumes in ihrer eigenen Hütte und einigen ähnlichen Räumen im Dorf hatte sie noch niemals eine Unterteilung innerhalb eines Hauses gesehen, geschweige denn eine Tür, wie sie sie nur aus Leas Erzählungen über ihre alte Heimat kannte - und wozu sollte eine solche auch gut sein? Offensichtlich kannte sich Lea hier aus, denn sie steuerte ganz selbstverständlich eine dieser drei Türen an. Targan hielt sie jedoch mit einer fast schon erschrocken wirkenden, auf jeden Fall aber sehr hastigen Geste zurück.
»Meine Frau hat die Kammer für dich und deine Tochter vorbereitet«, sagte er. »Vielleicht schaut ihr sie euch einmal an.«
Lea wirkte ein bisschen verdutzt, und auch Arri drehte sich stirnrunzelnd zu ihrem Gastgeber um und maß ihn mit einem fragenden Blick. Es war nicht nur, dass Targan plötzlich fahrig klang; noch vor einem Augenblick hatte er ja selbst gesagt, wie sehr ihn Leas unangekündigter Besuch überrascht habe. Wie konnte da seine Frau - oder sonst wer - auch nur irgendetwas vorbereitet haben?
Targan schien seinen Versprecher wohl im gleichen Moment bemerkt zu haben wie sie, denn er wirkte plötzlich ebenso verlegen wie hilflos, dann aber unterstrich er seine Worte nur noch einmal mit einer wedelnden Handbewegung, und Lea deutete ein Schulterzucken an und ging auf die Tür zu, die er bezeichnet hatte. Arri folgte ihr gehorsam, aber dennoch mit einem sonderbaren Gefühl. Von der vorsichtigen Erleichterung, die sie ergriffen hatte, der Dunkelheit und Kälte und allem, was sich darin verborgen haben mochte, endlich entronnen zu sein, war nicht mehr viel geblieben. Auch wenn sie der Versicherung ihrer Mutter, Targan sei ihr Freund und sie könnten ihm und seiner Familie vorbehaltlos trauen, nach wie vor glaubte, so machte doch allein Leas Reaktion klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte geschworen, dass Targan ihr plötzlicher Besuch mehr als unangenehm war und er sie viel lieber hätte gehen als kommen sehen.
Sie sah sich mit unverhohlener Neugier um, während sie ihrer Mutter und Targan durch die Tür in einen kurzen, aus massiven Baumstämmen erbauten Korridor folgte. Die Tür, die sie durchschritten, war so schwer, dass es Lea sichtliche Mühe kostete, sie zu öffnen, und Arri entging auch nicht, dass auf ihrer Innenseite ein mehr als daumenbreiter bronzener Stab befestigt war, den man in eine metallverkleidete Vertiefung im Rahmen schieben konnte, um sie damit zu verschließen. Und endlich begriff sie den Sinn dieses kleinen Vorraumes mit seinen zusätzlichen Türen: Wer immer in dieses Haus hineinwollte, würde sich schwer tun, es ohne die Erlaubnis seiner Bewohner zu betreten. Es war nicht einfach nur ein großes Haus, es war zugleich eine Festung.
Arri hatte noch niemals eine solche gesehen, aber ihre Mutter hatte ihr davon erzählt, den Burgen und Festungen ihrer Heimat, großen wehrhaften Gebäuden, die ihren Bewohnern nicht nur Schutz vor den Jahreszeiten und den Unbilden der Natur boten, sondern auch jedweden Angreifer sicher zurückhielten. Eine sonderbare Aufregung ergriff von Arri Besitz, als sie sich klarmachte, wie wenig sie bisher begriffen hatte, wohin sie tatsächlich unterwegs waren. Diese Menschen hier waren nicht einfach nur Freunde ihrer Mutter. Es war eine vollkommen andere Welt, die sie nun betrat. Arri hatte noch niemals ein Haus gesehen, dessen Tür man verschließen konnte und das ganz offensichtlich viel mehr dem Zweck diente, andere draußen zu halten, als nur seinen Bewohnern Unterschlupf und Wärme zu gewähren. Aus einem Grund, den sie selbst nicht ganz nachvollziehen konnte, gefiel ihr diese Vorstellung nicht, aber sie war auch zugleich sehr aufregend.
Sie folgten dem Gang bis zu seinem Ende, wo es eine weitere, ebenso massive Tür gab, hinter der eine steile Stiege nach oben führte. Der Anblick hätte Arri nicht überraschen dürfen - selbst das Wenige, was sie von außen hatte erkennen können, hatte ihr klargemacht, dass dieses Haus auch sehr viel höher war als jedes andere Gebäude, das sie je zu Gesicht bekommen hatte, obwohl es nicht auf Stelzen stand wie die Hütten in ihrem Heimatdorf; allerdings hatte sie noch nie davon gehört, dass es irgendwo außerhalb der alten Welt ihrer Mutter Häuser mit mehr als einem Stockwerk gab. Jetzt befand sie sich in einem solchen. Targan eilte voraus und rumorte einen Augenblick in der Dunkelheit am anderen Ende der Treppe herum, dann glomm ein vertrautes gelbes Licht über ihnen auf, und der große Mann erschien unter einer niedrigen Tür und winkte ihnen mit der linken Hand zu. In der anderen hielt er eine kleine Öllampe, deren Machart Arri vertraut vorkam. In Targans Händen wirkte sie wie ein Spielzeug, und er hielt sie so, als hätte er Mühe, sie mit seinen groben Fingern nicht zu zerbrechen. »Kommt«, sagte er, »macht es euch nur gemütlich. Ich lasse euch gleich eine Schale heißer Suppe bringen.« Er gab sich keinerlei Mühe, seine Unruhe und sein Unbehagen zu verhehlen, und wartete nicht einmal ab, bis sich Lea und Arri an ihm vorbei durch die niedrige Tür geschoben hatten, bevor er die Lampe auf den Boden stellte und wortlos verschwand. Lea drehte sich um und sah ihm stirnrunzelnd nach, antwortete auf Arris fragenden Blick aber nur mit einem wenig überzeugenden Schulterzucken und schloss dann die Tür hinter ihnen. Sie war nicht so massiv wie die, die sie unten passiert hatten, aber mit offensichtlich großer Kunstfertigkeit gebaut, sodass zwischen den einzelnen Brettern nicht der winzigste Spalt blieb. Die Angeln aus breiten Lederstreifen knarrten hörbar, als sie sich bewegten, doch die Tür schloss so dicht, dass die Flamme der kleinen Öllampe auf dem Boden nun ruhig und ohne das mindeste Flackern brannte.
Was Arri in ihrem Licht sah, war ebenso faszinierend wie auch enttäuschend zugleich: Der Raum, in den Targan sie geführt hatte, war groß, aber nicht sehr hoch. Über ihren Köpfen berührten sich die beiden Hälften des schrägen Daches. Lea und auch sie selbst konnten gerade noch aufrecht darin stehen, Targan aber hätte sich allerhöchstens gebückt hier drinnen aufhalten können. Der Boden, der aus denselben, sorgsam gearbeiteten Brettern bestand wie die Tür, war unerwartet sauber, und der ganze Raum, der sich über einen gut Teil des Hauses erstrecken musste (es sei denn, das Gebäude war noch sehr viel größer, als Arri bisher ohnehin angenommen hatte), war vollkommen leer. In einer Ecke unweit der Tür befanden sich zwei, mit unordentlich zusammengeknüllten Tierfellen bedeckte Grasmatratzen, das war alles.