»Ich dachte, seine Frau hätte das Zimmer für uns vorbereitet!«, murmelte Arri.
»Targan ist immer auf Gäste eingerichtet«, antwortete ihre Mutter, halblaut und in einem sonderbaren Tonfall, als wäre ihr diese Antwort gerade in dem Moment eingefallen, in dem sie sie gegeben hatte, und als glaubte sie selbst nicht daran, zöge sie aber einer anderen, viel unangenehmeren Möglichkeit vor. Sie seufzte, zuckte noch einmal mit den Schultern und machte schließlich eine Kopfbewegung zur Matratze hin. »Ich werde später mit ihm reden. Warum versuchst du nicht, ein wenig zu schlafen? Du musst müde sein.«
Das war Arri in der Tat, müde und so erschöpft wie schon seit langer Zeit nicht mehr - aber ihre Mutter konnte doch nicht im Ernst annehmen, dass sie sich jetzt einfach hinlegte und einschlief, als wäre nichts geschehen? »Besonders erfreut scheinen deine Freunde ja über unseren Besuch nicht zu sein. Oder ist das ihre Auffassung von Gastfreundschaft, Freunde in einen leeren Raum zu sperren?«
Lea sah sie eine ganze Weile wortlos und stirnrunzelnd an, bevor sie schließlich - fast widerwillig - nickte. »Ja«, bestätigte sie. »Irgendetwas ist seltsam.«
»Vielleicht liegt es an den anderen Gästen, von denen Targan gesprochen hat?«, vermutete Arri.
»Targan hat oft Gäste. Sein Haus ist nicht umsonst so groß. Es vergeht kaum ein Tag, in dem niemand hierher kommt. Er lebt vom Handel, weißt du? Und es lässt sich schwer handeln, wenn man denjenigen, die kommen, um Ware zu tauschen, kein Dach über dem Kopf bietet.«
Das klang zu überzeugend, um lediglich eine spontan ausgedachte Ausrede zu sein. »Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Arri.
»Ich sage es dir«, antwortete Lea unwillig, »sobald ich es selbst herausgefunden habe.«
Arri fuhr spürbar zusammen, als sie den scharfen Unterton in der Stimme ihrer Mutter hörte, aber sie war immerhin klug genug, nichts darauf zu sagen, und presste nur die Lippen aufeinander. Sie gewann nichts, wenn sie ihre Mutter auch noch zusätzlich bestürmte.
Vielleicht nur, um überhaupt etwas zu sagen, was die Lage nicht noch schlimmer machte, fragte sie: »Was hast du damit gemeint, wir bleiben nur diese eine Nacht?«
Lea sah sie so verwirrt an, als hätte sie plötzlich in einer völlig unverständlichen Sprache gesprochen. »Was ich damit gemeint habe?« Sie hob die Schultern. »Wie wäre es mit dem, was ich gesagt habe? Wir bleiben heute Nacht hier, und morgen bei Sonnenaufgang machen wir uns auf den Rückweg.«
»So schnell?«
»So schnell«, bestätigte Lea. »Ich möchte so schnell wie möglich zurück ins Dorf.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Wir hätten niemals weggehen sollen. Nicht ausgerechnet so knapp vor dem Jagd-Ernte-Fest, das Sarn nutzen wird, um das Dorf gegen mich aufzuwiegeln.«
»Warum haben wir es dann getan?«, fragte Arri, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief, als sie sich daran erinnerte, dass Rahn sie mit fast den gleichen Worten gewarnt hatte - und dass das Opferfest im Steinkreis stattfinden würde, dem Ort, an dem sich vor gar nicht allzu langer Zeit Sarns Greisenhand um ihr Handgelenk gewunden hatte, als wollte er sie dort für die Ewigkeit festhalten.
»Weil es mit einem blinden Schmied und einem einarmigen Gehilfen schon schwer genug ist, eine Schmiede zu betreiben«, antwortete Lea mit sanftem Spott in der Stimme. »Aber ohne Werkzeug und Erz ist es noch viel schwerer. Deshalb«, fügte sie nach einer winzigen Pause mit ganz leicht veränderter Stimme hinzu, »habe ich entschieden, trotzdem zu gehen. Auch wenn es mir gar nicht passt, nicht da zu sein, wenn Sarn im Steinkreis seine lächerlichen Beschwörungen zum Opferfest vollführt und die Menschen gegen uns aufhetzt.«
»Aber du hast es entschieden«, wiederholte Arri. »Ich verstehe.«
»Das bezweifle ich«, erwiderte Lea kühl. Sie tat Arri nicht den Gefallen, ihr zu vergeben oder auch nur ein Verständnis zu heucheln, das sie ganz und gar nicht hatte. Ganz im Gegenteil verspürte Arri plötzlich das Bedürfnis, sich selbst zu ohrfeigen, als ihr klar wurde, dass sie ihrer Mutter anscheinend das Stichwort gegeben hatte, auf das sie seit zwei Tagen wartete.
»Es war wichtig für mich, Achk und Kron nicht allein im Dorf zurückzulassen, weißt du? Ich traue Sarn nicht.«
»Sarn?«, wiederholte Arri verständnislos. »Aber was sollte ich denn...«
»Es hätte schon gereicht, wenn du einfach da gewesen wärest«, unterbrach sie ihre Mutter. »Du darfst Männer wie Sarn niemals unterschätzen, Arianrhod. Sie sind vielleicht nicht besonders klug, aber das macht sie nicht weniger gefährlich; ganz im Gegenteil, sie spüren jede noch so winzige Schwäche, und sie nutzen sie gnadenlos aus.«
»Aber was hätte ich tun können?«, murmelte Arri niedergeschlagen.
»Einfach nur da sein«, antwortete Lea. »Sarn hätte dich wahrscheinlich beschimpft und vielleicht auch gedemütigt, aber ich glaube nicht, dass er es wirklich gewagt hätte, dir etwas anzutun. Er hätte zumindest nicht mit Achk und Kron sprechen können, nicht, wie er es jetzt kann.«
Arri schwieg. Da war so viel, was sie hätte sagen können, so viel, was ihr auf der Zunge lag, und dennoch brachte sie keinen Laut hervor. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Es spielte keine Rolle, ob sie tausend Einwände gegen das hatte, was Lea ihr vorhielt oder nicht, tief in sich spürte sie einfach, dass sie Recht hatte. Plötzlich fühlten sich ihre Augen mit brennender Hitze.
»Du hast gefragt«, sagte Lea kühl und mit einer Stimme, der jegliches Mitgefühl fehlte. Das mochte stimmen, dachte Arri bitter - aber was brachte ihre Mutter auf den Gedanken, dass sie diese Antwort hatte hören wollen?
»Ja«, antwortete Arri mit einiger Verspätung. Sie erschrak selbst über den verbitterten Klang ihrer Stimme. »Das habe ich.«
»Doch du wolltest die Antwort nicht hören.« Täuschte sie sich, oder genoss es Lea regelrecht, das Messer in der Wunde noch einmal herumzudrehen? »Dann solltest du vielleicht auch keine entsprechenden Fragen stellen.« Ganz plötzlich machte sie einen eher traurigen als vorwurfsvollen Eindruck. »Es tut mir Leid, Arianrhod, aber irgendwann musst du anfangen, es zu begreifen.«
»Was?«, fragte Arri, als ob sie es nicht wüsste. »Dass es auch dazu gehört, zu seinen Fehlern zu stehen, wenn man erwachsen wird«, antwortete Lea, nun endgültig erbarmungslos. »Oder sie wenigstens einzusehen und daraus zu lernen.«
Fehler? Es lag Arri auf der Zunge, mit einem schrillen Lachen zu antworten, aber sie presste auch jetzt nur die Lippen zu einem dünnen, fast blutleeren Strich aufeinander und schwieg. Bildete sich ihre Mutter tatsächlich ein, keine Fehler gemacht zu haben? Aber auch das sprach sie nicht aus. Sie konnte es nicht. Lea schwieg eine ganze Weile. Als klar wurde, dass ihre Tochter nichts mehr zu dem Thema sagen würde, nickte sie sichtbar zufrieden und deutete noch einmal auf das einfache Lager neben der Tür. »Ruh dich einfach ein wenig aus. Targan wird uns sicher gleich etwas zu essen bringen, und dann...«
Schritte auf der Stiege unterbrachen sie. Lea war mit einer so schnellen Bewegung bei der Tür, dass Arri schon wieder erschrocken zusammenfuhr. Während sie die linke Hand nach dem ausstreckte, was ihre Mutter kurz zuvor auf ihre dementsprechende Frage als Riegel bezeichnet hatte, schlug sie mit der anderen den Umhang zurück und schloss die Finger um den Schwertknauf. So viel zu ihrer Behauptung, dachte Arri besorgt, es wäre alles in Ordnung.
Die Tür wurde von außen geöffnet, noch bevor Lea es tun konnte, doch es war nicht Targan, der hereinkam. In dem unsteten Licht, zu dem der Kerzenschein wieder wurde, nachdem die Tür die Zugluft nicht mehr zurückhielt, erkannte Arri ein dunkelhaariges Mädchen, das ungefähr in ihrem Alter sein mochte und vermutlich sehr hübsch war, auch wenn das unter all dem Schmutz und eingetrockneten Ruß auf ihrem Gesicht eher zu erraten als wirklich zu erkennen war. Vielleicht das Mädchen, von dem Targan gesprochen hatte, überlegte Arri. Seine Tochter. Schmutzig genug dazu war sie allemal. Ihre Mutter entspannte sich sichtbar, als sie sah, wer da zu ihnen hereinkam, und trat rasch einen Schritt zurück und zugleich zur Seite, um Platz zu machen. Arri wunderte sich ein bisschen, wie es dem Mädchen überhaupt gelungen war, die Tür zu öffnen, denn es trug in jeder Hand eine große Schale mit dampfender Suppe, und unter jeden Arm hatte es zusätzlich ein dickes Fladenbrot geklemmt.