Ein leises Scharren an der Tür ließ sie aufsehen. Auch Lea hob mit einem Ruck den Kopf. Ein alarmierter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, doch sie winkte Arri trotzdem beruhigend zu, während sie mit einer fließenden Bewegung aufstand und sich zur Tür wandte. Ihre Hand glitt zum Schwert.
Sie hatte noch nicht den ersten Schritt getan, als die Tür aufging und der Wolf hereinkam.
Lea atmete erleichtert auf und entspannte sich, doch Arri reagierte genau entgegengesetzt: Sie fuhr so heftig zusammen, dass sie beinahe ihre Schale fallen gelassen hätte, und wäre am liebsten entsetzt aufgesprungen, hätte sie der bloße Anblick des Ungeheuers nicht gleichzeitig auch gelähmt.
Der Wolf blieb vor ihrer Mutter stehen und sah mit einem Ausdruck, den Arri nicht anders als freundliche Neugier bezeichnen konnte, zu ihr hoch, dann tappte er weiter und geradewegs auf sie zu. Arris Herz schien einen Schlag zu überspringen und dann doppelt schnell und direkt in ihrem Hals weiter zu hämmern, als das riesige Tier näher kam, für einen Moment verharrte und sie mit der gleichen, unübersehbaren Neugier (wie es ihr vorkam, aber nicht annähernd so freundlich) anstarrte und seinen Weg dann fortsetzte. Langsam kam es näher, hielt unmittelbar vor Arri an und beschnüffelte erst ihre Hände, dann ihre Arme. Arri stockte der Atem, als der Wolf den Kopf hob und ihr Gesicht beschnüffelte - und dann einen halben Schritt zurücktrat und die Schnauze in ihre gerade zur Hälfte geleerte Suppenschale senkte.
Ihre Mutter lachte. »Ich glaube, du hast gerade einen neuen Freund gefunden.«
Arri ächzte vor Unglauben und Schrecken, aber sie war noch immer so gelähmt, dass sie keinen einzigen Muskel rühren konnte, sondern die Schale festhielt, während der Wolf in aller Seelenruhe deren Inhalt ausschlabberte.
»Er ist vollkommen harmlos, keine Angst«, sagte Lea belustigt. »So lange du ihm nichts tust oder er spürt, dass du Angst vor ihm hast.«
Arri war klar, dass sie den zweiten Teil dieses Satzes nur gesagt hatte, um sie zu foppen. Hätte das Tier wirklich mit einem Angriff auf Angst reagiert, dann hätte es sie schon unten vor dem Haus in Stücke gerissen. Trotzdem wagte sie es nicht, sich zu rühren oder gar die Schüssel zu senken. Reglos und wie erstarrt saß sie da, bis der Wolf die Schale zur Gänze geleert hatte, endlich wieder den Kopf hob und sie so vorwurfsvoll und verlangend anblickte, als hätte er fest mit einem Nachschlag gerechnet und wäre jetzt enttäuscht, ihn nicht zu bekommen, wobei er sich genießerisch mit der Zunge über das Maul leckte.
»Wenn du ihn jetzt auch noch streichelst«, sagte ihre Mutter, »dann hast du wirklich einen neuen Freund.«
Arri starrte sie einen Herzschlag lang ungläubig an, aber Lea machte eine auffordernde Bewegung, und so setzte sie schließlich die Schale zu Boden, streckte zögernd die Hand aus und fuhr dem Tier mit den Fingerspitzen flüchtig über den Schädel, bevor sie die Hand hastig wieder zurückzog. Der Wolf legte den Kopf auf die Seite und sah ihr ins Gesicht, und hätte Arri nicht ganz genau gewusst, wie unmöglich so etwas war, sie hätte in diesem Moment geschworen, es in seinen Augen spöttisch aufblitzen zu sehen.
»Du brauchst wirklich keine Angst vor ihm zu haben«, sagte Lea noch einmal. »Er ist zahmer und harmloser als die meisten Hunde, die ich kenne, und vor allem viel gelehriger - so lange man ihn nicht reizt oder er glaubt, Targan und seine Familie verteidigen zu müssen. Ich nehme an, für ihn sind sie so etwas wie sein Rudel, das er beschützen muss.«
»Das ist ein Wolf«, sagte Arri. Ihre Stimme zitterte.
»Targan hat ihn als kaum zwei Monate alten Welpen mitgebracht«, erwiderte ihre Mutter, »nachdem er seine Mutter und den Rest des Rudels getötet hatte. Dieses eine Tier hat er mitgebracht und gezähmt.« Sie kam näher, ließ sich neben dem Wolf in die Hocke sinken und schlug ihm zwei oder drei Mal mit der flachen Hand so kräftig auf den Rücken, dass jeder normale Hund, den Arri kannte, wahrscheinlich nach ihr geschnappt hätte. Das riesige Raubtier aber sah sie nur einen Moment lang an und begann dann, ihre Hand abzulecken. Arri kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihre eigenen Erfahrungen mit Wölfen beschränkten sich auf eine einzige, wenig angenehme Gelegenheit, aber sie hatte genug über diese gefährlichen Räuber gehört, um zu wissen, wie erstaunlich das war, was ihre Mutter gerade vor ihren Augen getan hatte. Und wie gefährlich.
»Seit wann bist du so ängstlich?«, fragte Lea.
»Bin ich nicht«, erwiderte Arri, was aber nicht einmal in ihren eigenen Ohren irgendwie überzeugend klang. Sie rettete sich in ein Lächeln und ein verlegendes Schulterzucken. »Ich habe... schlechte Erfahrungen mit Wölfen gemacht«, erinnerte sie.
»Ich weiß«, antwortete Lea. »Aber das war etwas anderes. Der Wolf, der dich angegriffen hat, war krank und halb verrückt vor Hunger, und er war ein wildes Tier.« Etwas in ihrem Blick veränderte sich, aber Arri konnte nicht sagen, in welche Richtung. »Dragosz hat mir davon erzählt. Du hast dich gut geschlagen.«
Für Leas Verhältnisse war dies ein gewaltiges Lob und vielleicht auch etwas wie ein Friedensangebot, aber Arri war weder in der Stimmung für das eine noch empfänglich für das andere. »Gut geschlagen?«, wiederholte sie und schüttelte traurig den Kopf. »Wenn Dragosz nicht gekommen wäre, dann hätte er mich getötet.«
»Selbstverständlich hätte er das. Ein Kind mit einem Stock als Waffe gegen einen kampferprobten alten Wolf, den der Hunger fast wahnsinnig gemacht hat, das ist kein gerechter Kampf.« Lea schüttelte bekräftigend den Kopf. »Du hattest keine Aussicht zu überleben.«
Arri streifte den Wolf, der zwar noch immer die Hand ihrer Mutter ableckte, dabei aber so unverwandt zu ihr aufsah, als verfolge er ihre Unterhaltung und sei gespannt auf ihre Antwort, mit einem besorgten Blick und wich vorsichtshalber ein kleines Stück vor beiden zurück, bevor sie antwortete. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Was?«
»Dass du von meiner Begegnung mit dem Wolf gewusst hast... und Dragosz.«
»Das hätte ich«, erwiderte ihre Mutter ruhig, »wenn ich davon gewusst hätte. Dragosz hat mir erst zwei Tage später erzählt, was geschehen ist. Warum hast du nichts gesagt?«
Arri hätte sich ohrfeigen können, diese Frage überhaupt gestellt zu haben. Sie hätte sich die Antwort ihrer Mutter denken können. Aber nun war es zu spät. Sie kannte ihre Mutter wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie nur auf ein Stichwort gewartet hatte und nun nicht mehr locker lassen würde. Vielleicht, überlegte sie, war es an der Zeit, einmal eine ihrer eigenen Lektionen auszuprobieren, nämlich die, dass Angriff oft die beste Verteidigung war. »Du wolltest nicht, dass ich etwas von ihm erfahre, habe ich Recht?«
Lea hörte auf, den Wolf zu streicheln. »Wie meinst du das?«
»Du hättest mir nichts von ihm erzählt, wenn ich euch nicht im Wald gesehen hätte, nicht wahr?«, fragte Arri. »Warum?«
»Warum sollte ich mich vor dir rechtfertigen?«, gab Lea spröde zurück. »Ich hätte dir von ihm erzählt, aber noch nicht.«
»Und warum nicht?«
»Ich hatte meine Gründe«, erwiderte ihre Mutter. »Ich war...« Sie brach ab, schwieg einen Moment und setzte dann neu an. »Dragosz ist nicht der, für den du ihn hältst, Arianrhod. Ich war nicht sicher, ob es richtig ist, dass du ihn kennen lernst. Oder er dich.«
»Aber er hatte mich doch schon gesehen«, erinnerte Arri. »Spätestens, als er mich vor dem Wolf gerettet hat.«
»Aber da wusste er nicht, dass du meine Tochter bist«, antwortete Lea.