Arri sagte zwar nichts dazu, sah ihre Mutter aber ungläubig an. Sie konnte doch unmöglich so naiv sein, tatsächlich zu glauben, dass Dragosz durch einen reinen Zufall ganz genau im richtigen Augenblick aufgetaucht war, um sie vor dem Wolf zu retten. Solche Zufälle gab es nicht. Er hatte sie beobachtet, und nicht erst seit diesem Tag.
»Erzähl mir von ihm«, verlangte sie geradeheraus. Was nach den Maßstäben ihrer Mutter eine reine Unverschämtheit war.
Dennoch antwortete Lea. »Ich weiß nicht viel über ihn. Nur das, was er mir erzählt hat.«
»Und du glaubst ihm nicht.«
Lea zögerte gerade einen Moment zu lange, um ihre Antwort glaubhaft klingen zu lassen. »Es spielt keine Rolle, ob ich ihm glaube oder nicht«, sagte sie, um fast im selben Atemzug zu sagen: »Selbstverständlich glaube ich ihm. Dragosz ist kein Mann, der lügen würde. Das hat er nicht nötig.«
»Du liebst ihn?«, vermutete Arri.
Ihre Mutter blickte sie stirnrunzelnd an, blieb aber immer noch ruhig. »Ich fürchte, auch das spielt keine Rolle. Dragosz ist...« Sie hob die Schultern. »Er ist ein aufrechter Mann, das ist vielleicht schon mehr, als ich erwarten durfte.«
»Woher kommt er?«, fragte Arri. »Von hier?«
Lea lächelte flüchtig. »Nein. Er kommt von weit her. Sein Volk kommt aus dem Osten.« Sie machte eine unbestimmte Geste. »Von jenseits der Berge.«
Es dauerte eine kleine Weile, aber dann begriff Arri. »Das sind nicht die Männer, die...« Sie atmete hörbar ein. »Das sind nicht die Männer, die Grahl und seine Brüder angegriffen haben?«, setzte sie neu an.
»Ich weiß nicht, wer wen angegriffen hat«, antwortete Lea. »Ich war nicht dabei.«
»Also waren sie es«, sagte Arri. Diesmal wartete sie vergeblich auf eine Antwort.
»Dann ist... alles andere auch wahr?«, fragte sie unsicher. »Was Grahl und die anderen behaupten?«
»Dieser Unsinn? Dass sie einen Angriff planen und alle töten wollen?«, fragte Lea verächtlich. »Ja, das ist genau so überzeugend wie Sarns Behauptung, dass ich vor zehn Jahren ins Dorf gekommen bin, um es auszuspähen.« Sie lächelte wieder. »Nein. Sie planen keinen Angriff. Das wäre dumm. Warum sollten sie von so weit her kommen, nur um Krieg zu führen? Noch dazu einen Krieg, den sie nicht gewinnen können?«
»Wieso nicht?«
»Goseg ist viel zu stark«, antwortete Lea. »Selbst wenn Dragosz die Krieger besiegen könnte, wäre der Preis viel zu hoch.« Sie schüttelte noch einmal und vielleicht sogar eine Spur zu heftig den Kopf. »Und selbst wenn es nicht so wäre: Warum sollte Dragosz einen Krieg führen? Er hätte viel zu verlieren, aber kaum etwas zu gewinnen. Dieses Land ist groß. Es bietet mehr als genug Platz für eine weitere Sippe.«
Das klang nicht besonders überzeugend, fand Arri. Nicht einmal so, als glaube ihre Mutter selbst daran. Auf welche Frage wollte sie eigentlich nicht antworten?, dachte sie. Auf die nach Dragosz’ Sippe oder auf die nach Dragosz selbst?
Als ob sie die Antwort nicht wüsste!
Sie dachte an Dragosz und daran, wie sie ihn am Bach getroffen hatte. Sie war verwirrt. Prompt meldete sich auch ihr schlechtes Gewissen wieder, denn es war nun das zweite Mal, dass sie ihrer Mutter das Zusammentreffen mit Dragosz verschwieg, wobei sie selbst nicht sagen konnte, warum. Da war irgendetwas an Dragosz gewesen, das sie unendlich verstörte. Ihr Verstand, alles, was sie von ihrer Mutter gehört hatte, alles, was sie selbst erlebt und über diesen Mann in Erfahrung gebracht hatte, das alles schrie ihr zu, dass sie ihm nicht trauen durfte - aber da war zugleich noch eine andere Stimme in ihr, der all diese Gründe vollkommen gleichgültig waren. Etwas war zwischen Dragosz und ihr, das sie nicht in Worte fassen konnte, das aber immer stärker wurde. Erst jetzt, im Nachhinein, wurde ihr klar, dass seit ihrer letzten Begegnung mit diesem ungewöhnlichen Mann kein Augenblick vergangen war, in dem nicht ein Teil von ihr an ihn gedacht hatte.
Vorsichtig und in - wie sie hoffte - beiläufigem Ton sagte sie: »Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er mitgekommen wäre.« Vielleicht hatte sie nicht beiläufig genug geklungen, denn ihre Mutter sah sie mit gerunzelter Stirn an, bevor sie - allerdings mit einem Kopfschütteln - antwortete: »Nein, er wäre sowieso nicht mit hierher gekommen.«
»Wieso?«, fragte Arri.
»Weil ich nicht wollte, dass er... das hier sieht«, antwortete ihre Mutter zögernd.
Aber traute sie ihm denn nicht?, dachte Arri verwirrt. Ein Teil von ihr konnte sie sehr gut verstehen, aber ein anderer war regelrecht empört. Und vielleicht sah man ihr ihre Gedanken deutlicher an, als es ihr recht sein konnte, denn ihre Mutter fuhr rasch und in fast um Verzeihung heischendem Ton fort: »Targan ist in dieser Beziehung etwas... sonderbar. Er lebt davon, dass Fremde hierher kommen und mit ihm Handel treiben, und dennoch misstraut er ihnen grundsätzlich.«
»Vielleicht hat er schlechte Erfahrungen gemacht«, murmelte Arri - eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen.
»Vielleicht«, antwortete ihre Mutter.
Aber das war nicht der wirkliche Grund, fügte Arri in Gedanken hinzu, so wenig, wie es tatsächlich an Targan lag, dass sie Dragosz nicht hatte mit hierher bringen wollen. Irgendwie schien das Verhältnis zwischen Lea und dem schwarzhaarigen Fremden doch um einiges komplizierter zu sein, als Arri bisher angenommen hatte. Und ihre eigene Rolle dabei machte es auch nicht unbedingt einfacher. »Irgendwann wird er es kennen lernen«, sagte sie.
»Nein«, antwortete Lea. »Das glaube ich nicht. Es ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass ich hierher komme.«
»Wieso?«
»Weil wir fortgehen werden«, erinnerte Lea.
»Und du willst mir immer noch nicht sagen, wohin«, vermutete Arri.
Ihre Mutter schwieg eine ganze Weile. Sie ließ sich wieder in die Hocke sinken und fuhr dem Wolf mit der Hand über Kopf und Nacken, aber das tat sie zweifellos nur, um ihre Finger zu beschäftigen und Zeit zu gewinnen. Der Wolf schien das zu spüren, denn er entzog sich ihrer Berührung zwar nicht, blickte aber weiter sehr aufmerksam in Arris Gesicht hinauf, und schließlich, gerade als Arri zu dem Schluss gekommen war, dass ihre Mutter gar nicht auf ihre Frage antworten würde, sagte sie: »Wir gehen mit Dragosz.«
Seltsam - Arri war nicht einmal überrascht. Irgendwie hatte sie es gewusst. »Und wann?«
Lea hob die Schultern. »Ich hoffe immer noch, dass uns Zeit bis zum Frühjahr bleibt, aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Sarns Aktivitäten gefallen mir nicht. Vielleicht müssen wir schon bald gehen.«
Arri fragte sich ganz ernsthaft, ob Dragosz überhaupt etwas von den Plänen ihrer Mutter wusste. Wahrscheinlich schon, aber sicher war es nicht. Dann verscheuchte sie den Gedanken. »Zu seinem Volk?«, vermutete sie.
»Ja«, antwortete Lea. »Es wird dir dort gefallen.«
»Woher weißt du das?«, fragte Arri. »Du warst doch noch gar nicht bei ihnen.«
»Weil ich sicher bin, dass es an jedem Ort besser ist als an dem, an dem wir jetzt leben«, antwortete Lea. »Zumindest, seitdem Sarn die Schlinge enger um meinen Hals zu ziehen versucht.«
Und wenn nicht?, dachte Arri. Was ist, wenn du dich täuschst? Sie war völlig verstört. Ein Teil von ihr war zwar vollkommen empört über ihre eigenen Gedanken - wie konnte sie es nur wagen, Dragosz irgendetwas anderes als gute Absichten zu unterstellen? -, ein viel größerer aber wunderte sich doch sehr über die Reaktion ihrer Mutter. Abgesehen von dem Wenigen, was er selbst erzählt hatte, konnte Lea kaum mehr über Dragosz wissen als sie selbst, und wenn es tatsächlich stimmte, dass sein Volk jenseits der Berge lebte, konnte sie darüber erst recht nichts wissen, denn sie war so wenig wie Arri oder irgendein anderer, den sie kannten, jemals in diesem Land hinter den Bergen gewesen. Dass Lea einem anderen Menschen so vorbehaltlos glaubte (oder wenigstens so tat als ob), war mehr als ungewöhnlich, und es konnte dafür eigentlich nur zwei Gründe geben - sie war entweder blind vor Liebe oder vollkommen verzweifelt. Arri war nicht sicher, welche Möglichkeit sie mehr fürchten sollte.