Leichte Schritte näherten sich auf der Treppe. Der Kopf des Wolfes fuhr mit einer ruckartigen Bewegung herum, und ein aufmerksamer, aber nicht besorgter Ausdruck erschien in seinen Augen. Auch Lea sah hoch und wirkte für einen winzigen Moment, in dem sie sich nicht vollends in der Gewalt hatte, einfach nur erleichtert. Das Gespräch musste ihr wohl doch unangenehmer gewesen sein, als sie zugeben mochte. Gleich darauf erschien Runa wieder unter der Tür, und kaum erblickte sie Lea und den Wolf, verfinsterte sich ihr Gesicht auch schon wieder - falls es darauf überhaupt jemals so etwas wie einen freundlichen Ausdruck gegeben hatte, dachte Arri.
»Da bist du ja«, sagte sie, in tadelndem Ton und an den Wolf gewandt. »Ich habe dich schon im ganzen Haus gesucht. Du weißt doch, dass Vater nicht will, dass du unseren Besuch belästigst.«
Als hätte der Wolf die Worte verstanden, senkte er den Kopf und trat rasch und mit angelegten Ohren an Runas Seite, während Arris Mutter sich zu sagen beeilte: »Es ist nicht seine Schuld. Wenn du auf jemanden böse sein willst, dann auf mich. Er hat anscheinend nicht vergessen, wie sehr ich ihn als Welpe verwöhnt habe.«
Während Arri sich verwirrt fragte, warum ihre Mutter eigentlich einen Wolf in Schutz nahm, blickte Runa nun zu ihr hinüber, und der Ausdruck von mit Ärger gemischter Herablassung auf ihrem Gesicht nahm tatsächlich noch zu. Dann aber hob sie die Schultern und machte eine unfreundliche Kopfbewegung auf die offene Tür hinter sich. »Vater möchte dich sehen. Ich glaube, er braucht deine Hilfe.«
»Was ist geschehen?«, fragte Lea besorgt.
»Ich weiß nicht«, antwortete Runa. Arri spürte, dass das nicht die Wahrheit war, aber das Mädchen gab sich nicht einmal Mühe, überzeugend zu wirken. »Ich soll dich nur holen.«
Leas Unruhe wuchs, was Arri gut verstehen konnte - nachdem Targan so gegen die Regeln der Gastfreundschaft verstoßen hatte, indem er sie praktisch hier oben einsperrte, würde er sie gewiss nicht aus einer bloßen Laune heraus zu sich rufen. Irgendetwas musste passiert sein. Irgendetwas passierte eigentlich immer in letzter Zeit.
»Gut«, sagte Lea nach kurzem Überlegen. »Ich komme mit. Arianrhod, du wartest hier auf mich.«
»Ich komme auch mit«, erwiderte Arri vielleicht ein bisschen zu scharf. Ihre Mutter blickte sie kurz und beinahe wütend an, gab dann jedoch zu Arris Überraschung nach.
»Also gut«, seufzte sie. »Aber du redest mit niemandem. Hast du das verstanden?«
Arri war so überrascht, dass sie nur wortlos nickte, während es in Runas Augen eindeutig schadenfroh aufblitzte. Als sie sich umdrehte, um als Erste die dunkel daliegende Stiege hinunterzugehen, zog sie den Wolf grob an einem Ohr mit sich.
Arri zog ärgerlich die Stirn kraus, verbiss sich aber jede Bemerkung. Vielleicht hatte ihre Mutter ja Recht, und das Tier war für einen Wolf außergewöhnlich sanftmütig, wenigstens hoffte sie es für Runa. Wenn nicht, würde sie vielleicht auf eine ziemlich drastische Weise den Unterschied zwischen einem Hund und einem Wolf herausfinden...
Runa bewegte sich auf der vollkommen dunklen Stiege mit der traumwandlerischen Sicherheit eines Menschen, der in dieser Umgebung geboren war und sein gesamtes Leben hier verbracht hatte, und auch Lea wirkte fast ebenso sicher. Arri gab sich alle Mühe, mit den beiden Schritt zu halten, streckte aber trotzdem im Dunkeln beide Arme zur Seite aus, um sich mit den Händen an den rauen Wänden entlangzutasten. »Zieh den Kopf ein«, sagte Lea vor ihr, als sie das Ende der Stiege erreicht hatten.
»Warum?«, fragte Arri und bedauerte die Frage schon im nächsten Augenblick, denn sie bekam prompt eine Antwort, wenn auch keine, die sie sich gewünscht hätte: Sie knallte mit der Stirn gegen ein Hindernis, das vermutlich ein niedriger Türsturz aus Holz war, sich in diesem Moment aber wie massiver Stein anfühlte. Arri biss die Zähne zusammen, als ein glühender Pfeil durch ihren gesamten Schädel bis in den Nacken hinunterschoss, und irgendwie gelang es ihr sogar, jeglichen Schmerzenslaut zu unterdrücken.
Dennoch musste der Laut, mit dem sie gegen den Türsturz geknallt war, verräterisch genug gewesen sein. Irgendwo in der Dunkelheit vor ihr erklang das leise, schadenfrohe Lachen ihrer Mutter. »Weil die Türen hier ziemlich niedrig sind. Aber ich glaube, das weißt du schon.«
Arri verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort - schon, weil ihr der Schmerz die Tränen in die Augen trieb und sie wusste, dass man es auch ihrer Stimme angehört hätte -, schloss aber dichter zu ihrer Mutter auf und verspürte eine heftige Erleichterung, als vor ihnen endlich wieder rotgelber Lichtschein zu sehen war. Sie vermutete vor sich eine weitere Tür und zog sicherheitshalber den Kopf ein, dann bogen sie um eine Ecke, und endlich konnte sie wieder sehen und nicht nur hören und tasten.
Der Anblick, der sich ihr bot, als sie hinter ihrer Mutter durch die Tür trat, war überraschend. Nach dem massiven Eingangsbereich, der schmalen Stiege und der fast leeren Kammer, in die Targan sie geführt hatte, hatte sie einen weiteren, kleinen und finsteren Raum erwartet, der wehrhaft und eng wirkte. Doch zumindest was die Enge anging, befand sie sich im Irrtum. Vor ihnen erstreckte sich ein Raum, der sich über einen gut Teil des gesamten Gebäudes erstrecken musste, denn in der Wand zu ihrer Linken gewahrte sie die allermeisten der Fenster, deren Lichtschein sie hierher geführt hatte, und er wirkte eng, war es aber nicht wirklich. Dieser Eindruck kam eher zustande, weil er trotz seiner erstaunlichen Größe hoffnungslos überfüllt war. Es gab gleich drei offene Feuerstellen, die nicht nur rotes Licht, sondern auch anheimelnde Wärme verbreiteten, und Arri gewahrte in der rauchgeschwängerten Luft auf Anhieb ein halbes Dutzend Lager, die so um diese Feuerstellen gruppiert waren, dass die darauf schlafenden Menschen möglichst viel Wärme abbekamen.
Die Fenster an der gegenüberliegenden Wand sahen auf den ersten Blick ebenfalls geöffnet aus, doch dann erkannte Arri, dass sie sich getäuscht hatte. Sie waren mit straff gespannten Rinder- oder Schweineblasen verschlossen, sodass zwar Tageslicht durchschimmern, aber nicht übermäßig viel Wärme entweichen konnte. An der Wand erhob sich eine Konstruktion, die dem Vorratsregal ihrer Mutter ähnelte, aber ungleich größer und massiver war und so hoffnungslos voll gestopft mit allen möglichen Dingen, dass Arri erst gar nicht versuchte, sie allesamt zu erkennen. Vielleicht ein Dutzend Menschen hielten sich hier drinnen auf: Männer, Frauen und Kinder unterschiedlichen Alters, aber nahezu alle mit den gleichen schmutzigen Gesichtern und Händen. Sie sah (und vor allem roch sie sie!) auch Tiere, die ganz offensichtlich zusammen mit den Bewohnern dieses Hauses hier drinnen lebten - ein oder zwei Ziegen, ein Schwein, das in einer Ecke lag und ein halbes Dutzend Ferkel säugte, die die Menschen nach Einbruch der Dunkelheit wohl hereingeholt hatten, damit sie keinem Raubtier zum Opfer fielen oder einfach davonliefen.
All die unterschiedlichen Bewohner dieses höchst sonderbaren Hauses schienen sie und ihre Mutter (vor allem aber sie) mit der gleichen, misstrauischen Neugier anzustarren. Über Targans Gesicht huschte ein flüchtiges Stirnrunzeln, als er sah, dass Lea nicht allein heruntergekommen war, doch er enthielt sich jeder Bemerkung, drehte sich nur um und bedeutete Lea mit einem ungeduldigen Wink, ihm zu folgen. Arri machte zwei rasche Schritte, um noch schneller zu ihrer Mutter aufzuschließen.
»Was ist?«, fragte Lea.
»Ich hatte gehofft, deine Hilfe nicht zu brauchen. Aber der Zustand eines unserer Gäste hat sich verschlechtert.« Targan wedelte weiter mit einer Hand herum, sodass es Arri fast wie eine zweite, lautlose Sprache vorkam, mit der er ihrer Mutter vielleicht etwas mitzuteilen versuchte, was er nicht laut aussprechen wollte, wies aber zugleich auch mit der anderen Hand auf einen Punkt fast am Ende des großen Raumes. Neugierige Blicke folgten ihnen, als sie darauf zusteuerten. Arri hätte sie gern erwidert, doch stattdessen eilte sie so dicht hinter ihrer Mutter her, dass sie Acht geben musste, ihr nicht in die Fersen zu treten, und hielt den Blick dabei fast furchtsam gesenkt. Hier drinnen herrschte eine sonderbare Stimmung; etwas, das sie nicht wirklich in Worte fassen, aber überdeutlich spüren konnte.