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Targan führte sie zum anderen Ende des Raumes und trat dann beiseite, um Lea Platz zu machen. Im allerersten Moment konnte Arri nicht viel erkennen, denn ihre Mutter und Targan versperrten ihr die Sicht, dann aber bemerkte sie drei Männer, die um eine mit sorgsam ausgesuchten, gleich großen Steinen eingefasste Feuerstelle saßen. Genauer gesagt, saßen zwei von ihnen. Der dritte lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, aber er schlief nicht, und wenn doch, dann phantasierte er, denn er warf unentwegt den Kopf hin und her, und auch seine Hände bewegten sich unablässig, wobei seine schmutzigen Fingernägel scharrende Geräusche auf dem Boden aus hartem Holz verursachten.

Wie auch die beiden anderen hatte er langes, verfilztes Haar und einen womöglich noch ungepflegteren Bart, und genau wie sie trug er einfache Schnürsandalen und einen Rock aus einem struppigen Fell sowie einen Umhang, der früher einmal das flauschige Vlies eines Wisents gewesen war. Während seine beiden Kameraden den Umhang jedoch eng um die Schultern geschlungen hatten, als frören sie trotz der anheimelnden Wärme hier drinnen noch immer, war der seine wie eine Decke über seinen Körper ausgebreitet und bis zum Kinn hochgezogen. Das Gesicht des Fremden glänzte vor Schweiß, und Arri konnte seiner Haut ansehen, wie sehr sie glühte.

»Was ist mit ihm?«, fragte Lea, während sie mit raschen Schritten um das Feuer herumging und sich neben dem Fiebernden auf ein Knie herabsinken ließ. Einer der beiden Männer starrte sie nur finster an, und hätte es irgendeinen Grund für diese Annahme gegeben, Arri hätte geschworen, einen gehörigen Anteil Feindseligkeit in seinem Gesicht zu lesen, doch der andere sagte: »Er war unvorsichtig. Wollte einen Wisent erlegen, aber wir haben ihn gewarnt, der Herde nicht zu nahe zu kommen. Es war ein Bulle dabei. Er wollte nicht hören.«

Lea bedachte den Mann mit einem kurzen, zweifelnden Stirnrunzeln, dann streckte sie die Hand aus und schlug den zur Decke umgewandelten Umhang über dem Brustkorb des Verletzten mit einem Ruck zurück. Darunter kam ein wenig kunstvoll angelegter Verband aus Blättern zum Vorschein, der fast zur Gänze durchgeblutet war und dem Verletzten das Aussehen eines Buckeligen verlieh. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, griff Lea zu und entfernte den Verband.

Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie die schreckliche Wunde sah, die darunter zum Vorschein kam. Obwohl sie schon einen halben Tag alt sein musste, blutete sie noch immer, und Arri kam es beinahe wie ein kleines Wunder vor, dass der Mann überhaupt noch lebte. Seine Schulter war schrecklich verstümmelt. Das Schlüsselbein trat in einem offenen Bruch zutage, und unter dem roten, nässenden Fleisch war auch der weiße Knochen seines Schulterblatts zu sehen. Die Wunde verströmte einen schwachen, aber ebenso bezeichnenden Geruch, der Arri verriet, dass der zerschmetterte Knochen und die durchtrennten Muskeln und Adern nicht einmal das Schlimmste waren, was dieser Mann davongetragen hatte.

»Das war ein Bulle, sagt Ihr?«, fragte Lea.

Der Mann, der schon einmal geredet hatte, nickte abgehackt. Irgendwie wirkte die Bewegung trotzig. »Wir haben ihn gewarnt«, wiederholte er.

»Und Euer Freund hätte besser auf Euch gehört«, fügte Lea hinzu. Sie begutachtete die Wunde noch einmal ausgiebig, ohne sie mit den Fingern zu berühren, richtete den Oberkörper dann wieder auf und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kann nichts mehr für ihn tun. Er hat schon zu viel Blut verloren, und die Wunde ist brandig.«

Der Mann schwieg, doch Targan sagte: »Aber er wäre nicht der Erste, den du rettest. Deine Heilkünste sind überall im Land berühmt.«

»Hättest du mich eher gerufen, hätte ich vielleicht noch etwas tun können.« Leas Stimme klang sonderbar teilnahmslos. »Jetzt ist es zu spät. Und die Wunde sitzt an einer unglücklichen Stelle. Wäre es ein Arm oder die Hand, hätte er vielleicht noch eine Aussicht zu überleben. Aber so?« Sie schüttelte abermals den Kopf. »Was soll ich tun? Ihm die Schulter abschneiden?«

»Ich habe euch gleich gesagt, dass sie ihm nicht helfen wird«, mischte sich der andere Mann ein, der bisher kein Wort gesprochen, Lea aber unentwegt und mit wachsender Feindseligkeit gemustert hatte. »Lasst uns lieber zu den Göttern beten und ein Opfer bringen, statt ihren Zorn auf uns alle herabzubeschwören, nur weil wir der fremden Hexe vertrauen.«

Lea maß den Mann mit einem Blick, den sie ansonsten vielleicht für einen besonders abstoßenden, aber an sich harmlosen Wurm aufgebracht hätte, und reagierte darüber hinaus gar nicht, beugte sich nach einem Moment aber noch einmal über den Fiebernden und unterzog nicht nur seine Schulter, sondern auch den Rest seines Körpers einer aufmerksamen Musterung. Arri tat dasselbe, und es verging nur ein Augenblick, bis ihr auffiel, dass die schreckliche Wunde in der Schulter nicht die einzige war. Dicht unterhalb des Herzens klaffte ein fingerlanger, gebogener Schnitt, der anders als die Schulterwunde nicht mehr blutete, aber ebenfalls tief genug war, dass man an zwei Stellen den weißen Knochen hindurchschimmern sehen konnte, und mindestens drei seiner Finger an der rechten Hand waren gebrochen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch die beiden anderen Männer verletzt waren. Verglichen mit dem, was ihrem Kameraden zugestoßen war, waren es nicht viel mehr als lächerliche Schrammen; ein frisch verschorfter Kratzer auf der Wange des einen, eine noch im Wachstum begriffene Schwellung unter dem Auge des anderen, und die Hände beider waren voll eingetrockneten Blutes, bei dem es sich aber vielleicht auch um das ihres Freundes handeln mochte, den sie hierher getragen hatten. Arri versuchte, den Blick ihrer Mutter aufzufangen, um ihr eine lautlose Frage zu stellen, aber es gelang ihr nicht.

Lea musterte den Sterbenden lange und konzentriert und auf eine Art, in der sich teilnahmslose Gleichgültigkeit mit einer vagen Trauer zu mischen schien, dann schüttelte sie noch einmal den Kopf und sagte: »Er wird die Nacht nicht überleben. Ich kann euch einen Trank mischen, der sein Fieber dämpft und ihm das Sterben leichter macht. Das ist aber auch schon alles. Es tut mir Leid.«

»Wage es nicht, ihn zu berühren!«, zischte der Mann, der sie gerade schon einmal angegriffen hatte. Sein Kamerad warf ihm einen warnenden Blick zu, der dessen Zorn aber nur noch zu schüren schien. »Wage es nicht, ihn anzurühren«, sagte er noch einmal.

»Ganz wie du willst«, antwortete Lea kühl und richtete sich endgültig auf. Ihr Umhang fiel bei dieser Bewegung auseinander, sodass man das Schwert sehen konnte, das sie darunter trug. Der Ruhigere der beiden hatte sich gut genug in der Gewalt, um fast überzeugend so zu tun, als hätte er es nicht gesehen, in den Augen des anderen aber blitzte es auf.

»Was ist das?«, fragte er. »Ein Weib, das ein Schwert trägt? Wer bist du? Eine Hexe oder einfach nur ein Weib, das seinen Platz in der Welt nicht kennt?«

»Warum stehst du nicht auf und versuchst, es herauszufinden?«, fragte Lea in beinahe freundlichem Ton.

Nicht nur Arri fuhr erschrocken zusammen. Nach allem, was in den letzten Tagen und vor allem heute geschehen war, konnte sie verstehen, dass ihre Mutter sich nicht mehr so gut in der Gewalt hatte wie sonst - aber eine derartige Antwort hätte sie dennoch nicht erwartet.

Auch der andere schien im ersten Moment völlig fassungslos zu sein. Eine Frau mit einem Schwert an der Seite zu sehen mochte ihn verblüfft haben, aber von dieser Frau eine so offene Herausforderung zu hören war offensichtlich mehr, als er im ersten Moment verkraften konnte. Nach einem Atemzug straffte er jedoch die Schultern und machte Anstalten aufzustehen, doch diesmal mischte sich Targan ein. »Genug!«, sagte er scharf. »Ihr seid hierher gekommen, um eine Mahlzeit und einen Platz am Feuer zu verlangen, und ich habe euch beides gewährt, wie es die Gastfreundschaft gebietet. Aber ihr werdet euch wie Gäste benehmen. Ich dulde keinen Streit in meinem Haus!«