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Einen Herzschlag lang war Arri sicher, dass sich die Feindseligkeit des Bärtigen nun gegen Targan richten musste, und dem zornigen Auflodern in seinem Blick nach zu schließen war diese Vermutung zumindest nicht ganz falsch. Derselbe Blick zeigte ihm aber offensichtlich auch, welchem muskelbepackten Riesen er gegenüberstand und wie ernst Targans Warnung gemeint war. Er presste wütend die Lippen aufeinander und ließ sich dann wieder zurücksinken, und auch Lea beließ es bei einem verächtlichen Schulterzucken.

»Kommt mit«, sagte Targan. Die Worte galten Lea und Arri. »Wenn ihr schon einmal hier seid, können wir gleich auch unseren Handel besprechen. Und ihr« - er wandte sich an die beiden Männer - »bleibt bei eurem Freund und wacht über ihn, bis seine Seele zu den Göttern gegangen ist. Wenn ihr Wasser braucht oder noch hungrig seid, dann ruft nach mir.«

Begleitet von ihm und seiner Tochter - und dem Wolf, der keinen Schritt von Runas Seite wich - durchquerten sie den Raum erneut und steuerten eine der anderen Feuerstellen an; ganz gewiss nicht zufällig die, die am weitesten von den drei Fremden entfernt war. Der Platz am Feuer war besetzt, doch die beiden älteren Frauen und der halbwüchsige Junge, die um die wärmende Glut herumsaßen, standen rasch auf und entfernten sich, als Targan und seine Begleiter näher kamen. Arri versuchte, einen Blick in ihre Gesichter zu erhaschen, aber es gelang ihr nicht, denn alle drei wandten fast erschrocken die Köpfe ab, als sie in ihre Richtung sah. Targan bedeutete ihr und ihrer Mutter mit einer fast groben Geste, Platz zu nehmen. Arri und Lea gehorchten, doch als sich auch Runa unaufgefordert zu ihnen setzen wollte, verscheuchte ihr Vater sie mit einer unwilligen Bewegung. Dann fragte er: »Seid ihr noch hungrig? Ich hole euch gern noch etwas zu essen.«

Lea lehnte mit einer raschen Kopfbewegung ab, Arri hingegen nickte. Sie hatte ihr Brot ja nur angeknabbert, und den Großteil ihrer Suppe hatte der Wolf gefressen. »Gut«, sagte Targan. »Dann wartet hier.«

Arri sah ihm verstört nach, während er auf dem Absatz herumfuhr und davoneilte, nutzte die Gelegenheit aber auch, um sich noch einmal unauffällig, aber auch sehr viel aufmerksamer als das erste Mal umzusehen. Ihre Aufmerksamkeit galt diesmal jedoch nicht der sonderbaren Einrichtung des Raumes, sondern einzig den Menschen. Die Ähnlichkeit der Männer, Frauen und Kinder mit Targan beschränkte sich nicht nur auf die schmutzigen Gesichter. Zwei der älteren Männer mochten seine Brüder sein, bei den anderen aber handelte es sich ganz offensichtlich um seine Söhne, möglicherweise auch schon Enkelsöhne. Fast alle senkten hastig die Blicke oder taten so, als wären sie plötzlich mit etwas anderem, furchtbar Wichtigem beschäftigt, wenn sie in ihre Richtung sah, aber der eine oder andere hielt ihrem neugierigen Blick auch stand. Arri las Verunsicherung in ihren Gesichtern, vielleicht in dem einen oder anderen sogar etwas wie Furcht oder Ablehnung, aber eigentlich keine Feindseligkeit. Die seltsame, unangenehme Stimmung, die sie schon beim Eintreten gespürt hatte, musste einen Grund haben, den sie noch nicht begriff.

»Wer sind diese Leute?«, fragte sie schließlich, an ihre Mutter gewandt.

Sie hatte damit Targan und seine Familie gemeint, aber Lea verstand die Frage offensichtlich falsch. »Auf jeden Fall keine harmlosen Reisenden oder Händler«, antwortete sie besorgt. »Dieser Mann wurde nicht von einem Tier verletzt.«

»Es war ein Schwerthieb«, vermutete Arri.

Ihre Mutter sah sie überrascht an, nickte dann aber. »Ja. Woher weißt du das?«

Weil ich weiß, wer ihn geführt hat, dachte Arri. Laut sagte sie: »Er hatte noch mehr Verletzungen. Einen Schnitt in der Brust, und auch die beiden anderen sahen aus, als wären sie ordentlich verprügelt worden.«

Die Antwort mochte nachvollziehbar klingen, war aber dennoch ein Fehler, das begriff sie, noch bevor sie die Worte ganz ausgesprochen hatte. Das Misstrauen in den Augen ihrer Mutter loderte noch heller auf, und Arri fügte hastig hinzu: »Glaubst du, dass sie selbst ihren Kameraden angegriffen haben?« Lea antwortete nicht, sondern sah sie nur mit schräg gehaltenem Kopf und fast noch misstrauischer an. »Vielleicht sind sie in Streit geraten«, fuhr Arri fort. »Zumindest der eine sah mir ganz so aus, als ob nicht viel dazugehören würde, um ihn dazu zu bringen, sein Schwert zu ziehen.«

»Sie hatten keine Schwerter«, sagte Lea.

»Die haben sie mit Sicherheit draußen versteckt«, antwortete Arri. »Vielleicht haben sie diese Geschichte nur erfunden, weil sie Angst vor der Rache der Familie des Sterbenden haben.«

Leas Misstrauen war immer noch nicht ganz zerstreut, das sah Arri ihr an, aber immerhin schien sie über ihre Worte nachzudenken. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie sah sich rasch und sichernd nach rechts und links um, wie um sich davon zu überzeugen, dass niemand sie belauschte, bevor sie antwortete. »Nein. Sie sind unseretwegen hier. Meinetwegen.«

»Wieso?«, murmelte Arri überrascht. Woher konnte ihre Mutter das wissen?

»Du hast die Spuren doch auch gesehen, oder?«, fragte Lea, und nun wurde ihr Blick bohrend. Arri hielt ihm vielleicht nur noch stand, weil sie wusste, dass ihre Mutter sie einfach durchschauen musste, wenn sie jetzt nicht unbeirrbar dabei blieb, die Unwissende zu spielen. Und sie war ziemlich sicher, dass sie ihr ein zweites Mal nicht so leicht vergeben würde.

»Außerdem kenne ich einen von ihnen«, fügte Lea nach einer Weile und in leiserem, fast resignierendem Ton hinzu. Sie deutete mit den Augen eine Kopfbewegung an. »Der Ruhigere von beiden. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Er gehört zu Nors Kriegern.«

»Sie kommen aus Goseg?«, entfuhr es Arri; offensichtlich eine Spur zu laut, denn ihre Mutter zuckte leicht zusammen und warf ihr einen erschrockenen Blick zu, vorsichtig zu sein. Fast unmerklich nickte sie. »Ja. Den einen habe ich schon einmal in Nors Begleitung gesehen, und die beiden anderen gehören ganz gewiss zu ihm. Sie müssen uns gefolgt sein. Er weiß vermutlich nicht, dass ich ihn erkannt habe, aber wir müssen vorsichtig sein.«

»Aber du hast doch gesagt, dass niemand etwas von diesem Ort weiß.«

»Das dachte ich bislang auch. Vielleicht habe ich sie hierher geführt. Ein Grund mehr, auf der Hut zu sein.«

»Dann... dann müssen wir hier weg«, meinte Arri. »Bevor...«

Ihre Mutter unterbrach sie mit einer besänftigenden Handbewegung. »Keine Angst. So lange wir hier in Targans Haus sind, kann uns nichts geschehen. Niemand hat es je gewagt, in diesem Haus gegen die Regeln der Gastfreundschaft zu verstoßen... oder sagen wir es so: Niemand hat diesen Versuch je überlebt.«

Und das sollte sie beruhigen? »Aber wir können doch nicht...«

»Wir müssen vor allem Ruhe bewahren«, unterbrach sie Lea abermals. »Ich weiß nicht, was diesen drei Männern zugestoßen ist, doch das bietet uns einen Vorteil, den wir nutzen sollten. Wenn sie von irgendjemandem angegriffen wurden, dann haben wir vielleicht einen Freund; unsere Feinde haben demnach Feinde, was ja auch nicht unbedingt das Schlechteste ist, was uns passieren kann.«

Targan kam zurück. Er hielt eine Schale mit Suppe in der rechten Hand, und hätte Arri noch daran gezweifelt, dass Runa wirklich seine Tochter war, wären diese Zweifel jetzt zerstreut worden, denn auch er hatte den rechten Daumen in die Suppe getaucht. Wortlos nahm er zwischen ihr und ihrer Mutter Platz, reichte ihr die Schale und steckte den schmutzigen Daumen in den Mund. Arri hatte plötzlich gar keinen großen Hunger mehr, zumal Targan weder Brot noch einen Löffel mitgebracht hatte, bedankte sich aber dennoch mit einem artigen Nicken, als er ihr einen auffordernden Blick zuwarf, und setzte die hölzerne Schale gehorsam an die Lippen. Ihre Mutter versuchte ihr mit Blicken etwas zu bedeuten, das sie nicht verstand, und Targan wandte sich mit einem unbewusst ächzenden Laut endgültig an Lea.