»Ich muss mich für das Benehmen dieser Männer entschuldigen, Leandriis.« Beim ersten Mal war es Arri nicht wirklich aufgefallen, jetzt aber bemerkte sie, dass Targan ihre Mutter offensichtlich immer mit ihrem wirklichen Namen anredete, was ihr weit mehr über das Vertrauen verriet, das sie diesem Mann entgegenbrachte, als alles andere. »Sie sind nicht lange vor euch gekommen und haben unsere Gastfreundschaft beansprucht. Ich hatte gleich kein gutes Gefühl dabei. Sie gefallen mir nicht.«
»Aber du wirst niemals jemanden wegschicken, der zu dir kommt und ein Lager für die Nacht und eine warme Mahlzeit erbittet«, sagte Lea sanft. »Das ist einer der Gründe, aus denen ich stolz bin, dich meinen Freund nennen zu können.«
Targan schüttelte fast ärgerlich den Kopf. »Es ist einer der Gründe, der mir schon oft eine Menge Ärger eingebracht hat. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde nicht dulden, dass dir unter meinem Dach ein Leid zugefügt wird. Obwohl...«, er schwieg einen Atemzug lang, und für die gleiche Zeitspanne huschte ein schwer zu deutendes Lächeln über seinen Lippen, »... obwohl ich nicht sicher bin, wer wem ein Leid zufügen würde, wenn es so weit käme.«
»So weit wird es nicht kommen«, versprach Lea. »Wir werden gleich morgen bei Sonnenaufgang abreisen.«
»Ach, Unsinn!«, sagte Targan mit einer wegwerfenden Geste. »Wenn jemand dieses Haus morgen verlässt, dann bestimmt nicht du, Leandriis. Das Gesetz der Gastfreundschaft gilt bei Sonnenaufgang nicht mehr. Wir werden sehen, wer dann geht.«
»Ich will nicht, dass ihr unseretwegen...«, begann Lea, doch Targan unterbrach sie erneut und mit einer diesmal fast zornigen Handbewegung. »Mit dir oder deiner Tochter hat meine Entscheidung wenig zu tun, Leandriis. Du bist immer ein gern gesehener Gast in meinem Haus, doch es spielt keine Rolle, ob du es bist oder nur irgendein Fremder, der um ein Dach für eine Nacht bittet. Wer das Gesetz der Gastfreundschaft in meinem Haus beleidigt, der beleidigt mich. Diese beiden Männer werden gehen, sobald es hell wird, spätestens aber, wenn ihr Kamerad gestorben ist. Du und deine Tochter, ihr könnt bleiben, so lange ihr wollt.« Er machte eine scharfe Handbewegung, um jeden möglichen Widerspruch Leas von vornherein wegzufegen. »Meine Söhne und ich werden dich bis zur Grenze unseres Gebietes begleiten, und darüber hinaus bis zu deinem Dorf, wenn es nötig sein sollte.«
»Bevor wir über das Gehen sprechen, sollten wir vielleicht erst einmal über den Grund unseres Kommens reden«, antwortete Lea mit einem knappen, aber sehr warmen Lächeln. »Es ist spät. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber unsere Zeit ist begrenzt.«
Targan wirkte enttäuscht, vielleicht sogar ein bisschen verärgert. Vielleicht verstieß Lea mit ihrer direkten Art gegen irgendein schwer zu durchschauendes Ritual, das er beim Handeln voraussetzte. »Und was genau brauchst du?«
»So ziemlich alles. Was ihr an Werkzeug erübrigen könnt, Kupfer, Zinn...«
Targan zog leicht verwundert die Augenbrauen zusammen. »Du willst es tatsächlich noch einmal mit dem Schmieden riskieren?«
»Vorerst nur mit dem Bronzeschmieden. Alles andere macht zur Zeit keinen Sinn.«
»Du solltest dich trotzdem vorsehen«, beharrte Targan. »Nach allem, was ich gehört habe, traue ich eurem Schamanen jede Schandtat zu. Er wartet doch nur darauf, dass du einen Fehler machst.«
»Ich habe tatsächlich schon einen Fehler gemacht«, sagte Lea hastig. Targans Worte waren ihr ganz offensichtlich unangenehm. »Aber derselbe Fehler wird mir nicht noch einmal unterlaufen, keine Sorge.«
»Nach dem, was du erzählt hast, war es nicht deine Schuld, dass euer Schmied erblindete«, antwortete Targan. »Wie willst du verhindern, dass andere Fehler machen?«
»Indem ich sie diesmal besser unterrichte«, sagte Lea. »Derselbe Fehler wird mir kein zweites Mal unterlaufen«, beharrte sie. »Und ich kann diese Menschen nicht einfach so zurücklassen, nach all der Zeit.«
»Da sie so freundlich und zuvorkommend zu dir waren, vermute ich?«, fügte Targan spöttisch hinzu.
»Das spielt keine Rolle«, entgegnete Lea. »Wir haben bei ihnen gelebt. Meine Tochter ist bei ihnen aufgewachsen. Hätten sie uns damals nicht aufgenommen, wären wir vielleicht heute beide nicht mehr am Leben.« Sie begleitete diese Worte mit einem sonderbaren Blick in Targans Gesicht, der ihm unangenehm zu sein schien, denn er hielt ihm nur ganz kurz stand, bevor er sich in ein unglückliches Lächeln rettete.
Arri hatte plötzlich das intensive Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Unbehaglich drehte sie sich um und erkannte, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Nahezu lautlos hatte sich der Wolf wieder genährt. Er stand gerade einmal zwei Schritte hinter ihr und sah sie aus seinen unergründlichen Augen an, und als hätte er nur darauf gewartet, dass Arri aufsah, überwand er nun auch noch die restliche Entfernung und begann schon wieder, an ihren Händen zu schnüffeln. Arri wusste mittlerweile, dass das Tier vollkommen harmlos war, aber das änderte nichts daran, dass sie innerlich vor Furcht erstarrte. Alles, was sie konnte, war, ihrer Mutter einen stummen, Hilfe suchenden Blick zuzuwerfen, den Lea gewiss nicht übersah. Dennoch blickte sie geflissentlich in eine andere Richtung, und auch Targan tat so, als bemerke er gar nicht, was sich unmittelbar neben ihm abspielte. »Dann kommen wir zu einer anderen Frage«, fuhr er in verändertem Ton und mit einer fahrigen Geste in die Runde fort. »Du bist mit einem großen Wagen gekommen, weil du viel mitnehmen willst.«
Der Wolf hatte mittlerweile aufgehört, Arris Hände zu beschnüffeln. Seine feuchte Nase näherte sich ihrer Suppenschale. Lea nickte. »Und jetzt möchtest du wissen, welche Gegenleistung ich dir bieten kann.«
»Freundschaft ist ein kostbares Gut«, sagte Targan. »Aber es macht nicht satt, und es wärmt allenfalls die Seele, nicht den Körper, wenn draußen Schnee fällt und der Wind ums Haus heult.«
»Den einen oder anderen vielleicht doch«, sagte Lea mit einem kurzen, belustigten Blick in Arris Richtung. Arri hatte sich mittlerweile so weit zurückgebeugt, wie sie es im Sitzen konnte, ohne Gefahr zu laufen, das Gleichgewicht zu verlieren und nach hinten zu kippen, aber die schnüffelnde Nase des Wolfes folgte der Bewegung beharrlich. Targan folgte ihrem Blick, runzelte die Stirn und machte eine wenig überzeugende Bewegung, um das Tier zu verscheuchen. Tatsächlich wich der Wolf einen halben Schritt zurück, aber nicht weiter, und setzte sich auf die Hinterläufe. Er begann zu hecheln. Sein Blick tastete gierig über die Suppenschale in Arris Händen; zumindest hoffte sie, dass es die Schale war, die er anstarrte.
»Targan«, sagte Lea mild.
Targan tat noch einen halben Atemzug lang so, als verstünde er gar nicht, was sie überhaupt wollte, doch schließlich drehte er sich um und winkte seine Tochter herbei. Arri sah erst jetzt, dass Runa offensichtlich schon die ganze Zeit in geringem Abstand dagestanden und die Szene mit unverhohlener Schadenfreude beobachtet hatte. »Runa. Bring dein Tier weg. Es belästigt unseren Besuch.«
»Oh, das... das ist schon in Ordnung«, sagte Arri zögernd. »Er stört mich nicht... wirklich nicht.« Sie setzte die Suppenschüssel auf dem Boden ab, damit sie die Hände frei hatte, um dem Wolf über den Kopf zu streichen und ihre Behauptung zu beweisen (und vor allem, damit niemand sah, wie stark ihre Finger zitterten), und wenn schon nicht die Worte, so erwies sich doch zumindest die Bewegung schon wieder als Fehler, denn der Wolf kam unverzüglich wieder näher und tauchte die Schnauze in ihre Suppe.