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»Ich kann mich irren«, fuhr Arri hastig fort, »aber hat er sie nicht schon beschimpft, bevor sein Bruder gestorben ist?«

Abermals blitzte es kurz und beinahe gehetzt im Blick ihres Gegenübers auf; der Blick eines ertappten Sünders, der sich allmählich in die Enge getrieben sah. Ohne hinsehen zu müssen, spürte Arri, wie sich auch Runa spannte. Möglicherweise ging dem Mädchen ja nun endgültig auf, dass es eine ziemliche Dummheit begangen hatte, und möglicherweise ein wenig zu spät. Der Wolf knurrte leise.

»Das ist richtig«, sagte der Fremde, diesmal mit unbewegtem Gesicht und vollkommen beherrscht, aber mit einer Stimme, in der irgendetwas falsch war. »Wir haben das eine oder andere über deine Mutter gehört.«

»Und was?«, wollte Arri wissen.

Der andere bewegte sich unruhig. »Deine Mutter ist eine mächtige Frau. Man sagt, ihre Heilkräfte vermögen wahre Wunderdinge zu vollbringen.«

»Und ihr bittet also um diese Wunderdinge, indem ihr sie beschimpft?«, fragte Arri herausfordernd. Ein Teil von ihr schrie fast in Panik auf, der Teil, der sich darüber im Klaren war, dass sie sich gerade um Kopf und Kragen redete, aber im Grunde war es völlig egal, was sie sagte. Sie musste nur reden, damit ihre Mutter und Dragosz die Worte hörten und endlich herkamen. Sie konnte die Spannung, die von den beiden Männern Besitz ergriffen hatte, mittlerweile fast körperlich spüren. Etwas würde geschehen. Etwas Schlimmes, und zwar gleich.

»Warum redet ihr nicht mit Leandriis selbst?«, mischte sich Runa ein. »Oder mit meinem Vater? Ich bin sicher, er kann alle Missverständnisse aufklären.«

»Ja«, sagte der Mann hinter ihr, »aber wer sagt dir, dass wir das wollen?«

22

Und dann schien plötzlich alles gleichzeitig zu geschehen. Arri fuhr herum. Runa prallte einen Schritt zurück und zur Seite, um der zupackenden Hand auszuweichen, mit der der Mann unversehens nach ihr griff, aus dem drohenden Knurren des Wolfes wurde etwas anderes, und das Tier stieß sich ansatzlos aus dem Stand ab und sprang mit geöffneten Fängen nach dem ausgestreckten Arm, der nach Runa grabschte. Hätten sich seine gewaltigen Kiefer um das Handgelenk des Mannes geschlossen, hätten sie ihm die Hand vermutlich einfach abgebissen.

Aber er erreichte sein Ziel nicht. Auch der andere Arm des Mannes kam plötzlich hoch, und seine Hand war nicht mehr leer, sondern hielt einen faustgroßen, glatten Stein umklammert, den er unter dem Umhang verborgen getragen haben musste und den er nun mit aller Kraft auf den Schädel des Wolfes herunterkrachen ließ.

Den Bruchteil eines Atemzuges, bevor sich die Fänge des Raubtiers in sein Fleisch rammen konnten, zerschmetterte der Stein dessen Schädel, und noch bevor der Wolf zuckend ins nasse Gras fiel, beendete die andere Hand des Mannes ihre Bewegung und riss das Mädchen von den Füßen. Runa fiel keuchend zu Boden. Arri hörte etwas hinter sich rascheln, deutete eine Bewegung nach rechts an und warf sich dann blitzartig nach links. Es gelang. Die zupackende Hand verfehlte sie so knapp, dass die Fingernägel des Mannes ihre Bluse zerrissen und eine brennende Spur auf ihrer Haut hinterließen, aber sie verfehlte sie; statt sie herumzureißen und festzuhalten, brachte sie sie nur zum Straucheln.

Arri kämpfte mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht, spürte, dass sie diesen Kampf so oder so verlieren würde, und warf sich stattdessen mit ausgestreckten Armen nach vorn. Etwas zischte so dicht über ihrem Hinterkopf entlang, dass sie den Luftzug spüren konnte. Vielleicht die Faust des Angreifers, vielleicht auch seine Waffe, mit der er nach ihr schlug, dann prallte sie auf und schlidderte ein gutes Stück weit über das nasse Gras davon. Noch ehe sie ganz zur Ruhe gekommen war, warf sie sich instinktiv herum und versuchte den Schwung ihrer eigenen Bewegung zu nutzen, um auf die Füße zu kommen, was ihr nicht gelang. Statt hochzuspringen, kippte sie gleich wieder nach hinten und schlug der Länge nach hin, entging auf diese Weise aber einem stampfenden Fußtritt, mit dem Nors Krieger ihren Kopf in den Boden zu rammen versuchte. Er meinte es wirklich ernst.

Sie rollte sich über die Schulter ab, genau wie es ihre Mutter ihr gezeigt hatte, sah einen weiteren gemeinen Fußtritt auf sich zukommen und riss unwillkürlich beide Arme vors Gesicht. Diesmal konnte sie dem Tritt nicht mehr ausweichen, aber sie hatte aus der Beinahe-Katastrophe mit Rahn gelernt. Statt den Tritt einfach nur abzufangen, was ihr möglicherweise die Handgelenke gebrochen hätte, ließ sie sich unter der brutalen Wucht des Angriffs zwar nach hinten kippen, packte aber auch gleichzeitig mit beiden Händen das Fußgelenk des Mannes und nutzte seine eigene Kraft, um ihn mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ihr Gegner keuchte vor Überraschung, tanzte einen Moment lang geradezu komisch auf einem Bein herum und stürzte schließlich nach hinten.

Arri bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sich der zweite Mann auf Runa gestürzt hatte und den Stein, mit dem er den Wolf erschlagen hatte, nun nach ihrem Gesicht schwang. Im letzten Moment warf Runa den Kopf zur Seite, riss gleichzeitig das Knie in die Höhe und zerkratzte dem Krieger mit den Fingernägeln beider Hände das Gesicht. Der Mann grunzte vor Wut und Schmerz und schlug mit umso größerer Wucht zu, aber sein Hieb ging fehl; der Stein grub sich mit einem dumpfen Laut nur einen Fingerbreit neben Runas Kopf in den Boden, und bevor er zu einem zweiten Hieb ausholen konnte, sprang Arri auf die Füße und rammte ihm die Schulter in den Rücken.

Das Ergebnis war nicht so beeindruckend, wie sie es sich gewünscht hätte, aber es reichte: Der Angreifer kippte mit einem überraschten Laut von Runa herunter, und das Mädchen half noch ein wenig nach, indem es ein zweites Mal mit dem Knie zustieß. Diesmal traf sie. Aus dem wütenden Schnauben des Kriegers wurde ein atemloses Keuchen, und er krümmte sich am Boden.

Arri streckte hastig die Hand aus, um Runa auf die Füße zu helfen; das Mädchen versuchte, danach zu greifen, und erstarrte dann mitten in der Bewegung. Ihre Augen wurden groß. Vielleicht war es tatsächlich eine Spiegelung auf ihren Augäpfeln, vielleicht hörte Arri auch ein verräterisches Geräusch - oder es war einfach nur Glück. Im allerletzten Moment ließ sie sich auf das rechte Knie fallen, krümmte den Rücken und spannte sämtliche Muskeln. Diesmal war das Ergebnis beeindruckend: Der Mann prallte in vollem Lauf und mit solcher Wucht gegen sie, dass ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde, als sie zu Boden fiel; der Angreifer aber verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und segelte in hohem Bogen durch die Luft; und um das Maß voll zu machen, prallte er gegen seinen Kameraden, der sich in diesem Augenblick mit schmerzverzerrtem Gesicht hochzustemmen versuchte. Die Folge war ein zweizüngiger Schmerzensschrei und ein wahres Gewirr von ineinander verstrickten Gliedmaßen und Leibern.

Arri versuchte zu atmen. Sie konnte es nicht. Ihre Rippen fühlten sich an, als wären sie in unzählige kleine Stücke zersprungen - und zwar jede einzelne -, und jeder Atemzug schien zwar keine Luft, dafür aber flüssiges Feuer in ihre Lungen zu treiben. Dennoch sprang sie auf die Füße, griff nach Runas Arm und riss sie in die Höhe.

»Weg!«, keuchte sie; womit sie nicht nur ihren allerletzten Atem verschwendete, sondern auch einen weiß glühenden Schmerzpfeil tief in ihren Brustkorb hineinjagte. Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen, und es war Runa, die sie am Arm ergriff und herumzerrte, nicht umgekehrt.

Schmerzgepeinigt und mit zusammengebissenen Zähnen torkelte sie los. Hinter ihnen randalierten die beiden Männer mittlerweile laut genug, dass man sie eigentlich noch auf der anderen Seite des Tales hören musste - zumindest ihre Mutter und Dragosz mussten sie doch einfach hören! -, und Arri verlor für einen Moment vollends die Orientierung. Sie konnte immerhin wieder atmen, auch wenn sie ganz und gar nicht sicher war, dass das wirklich eine Gnade war, und auch ihr Blick klärte sich langsam wieder. Obwohl sie in dieser Umgebung vollkommen fremd war, war sie doch ziemlich sicher, dass sie sich vom Haus entfernten, statt in die einzige Richtung zu laufen, in der sie Hilfe erwarten konnten.