Runa zögerte; sie wirkte so verwirrt, als wäre sie selbst nicht ganz sicher, wo sie überhaupt war - aber das war nur Arris allererster Eindruck. Dann wurde ihr klar, wie unrecht sie dem Mädchen tat. Runa war nicht verwirrt, sondern kämpfte mit aller Gewalt um ihre Beherrschung. Plötzlich regte sich Arris schlechtes Gewissen. Ganz gleich, ob Runa sie nun belogen hatte oder nicht, das Mädchen litt Todesangst, und das hatte sie ganz gewiss nicht gewollt. Irgendwie beherrschte sich Runa noch, aber in ihren Augen schimmerten Tränen, und sie hockte vermutlich nur so verkrampft da, damit Arri nicht sah, dass sie am ganzen Leib zitterte. »Und wie geht es weiter?«, flüsterte sie.
Es verging ein Moment, bis Runa antwortete, und wieder tat sie es in diesem sonderbaren, gehetzten Ton, der Arri vielleicht mehr alarmierte als alles andere: als hätte Runa Mühe, sich darauf zu besinnen, wo sie überhaupt war. »Wir warten«, flüsterte sie. »Vielleicht... finden sie den Weg nicht. Sie kennen sich hier nicht aus.«
Das hörte sich allerhöchstens nach etwas an, das sie fast verzweifelt glauben wollte, dachte Arri, aber nicht nach wirklicher Hoffnung. Was immer sie von den beiden Fremden hielt - sie hatten ihr nicht den Eindruck gemacht, dumm zu sein. Und schon gar nicht den, schnell aufzugeben. Dennoch behielt sie ihre Meinung für sich und konzentrierte sich ganz darauf zu lauschen. Die Stimmen der beiden Männer drangen verzerrt und aller hohen Töne beraubt durch den schmalen Schacht, durch den Runa und sie gekrochen waren; zu leise, um die Worte zu verstehen, aber sie hörten sich eindeutig nach einem Streit an. Arri hatte keine Ahnung, ob das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes war - aber sie wusste, dass sie hier schleunigst weg mussten, wenn sie überleben wollten. »Wohin führt dieser Gang?«, flüsterte sie.
Runa machte eine vage Geste hinter sich. »Tiefer in den Berg hinein. Aber es gibt einen Schacht, der zum Haus hinaufführt.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Runa starrte stumm an Arri vorbei. »Sie... sie haben ihn umgebracht«, murmelte sie plötzlich. »Er... er hat ihn... einfach erschlagen.«
Es dauerte einen Moment, bis Arri überhaupt begriff, dass sie von dem Wolf sprach; und noch einen zweiten, deutlich längeren, bis ihr klar wurde, dass der Schmerz in Runas Stimme tatsächlich dem toten Tier galt. Es gelang ihr nicht ganz, den Ausdruck von Verständnislosigkeit aus ihrem Blick zu verbannen, als sie Runa ansah. Es war doch nur ein Tier gewesen! Nach allem, was sie gesehen hatte, sollte das Mädchen heilfroh sein, überhaupt noch am Leben zu sein.
»Er hat ihn... einfach erschlagen«, murmelte Runa. Ihre Stimme klang flach, auf eine so unheimliche Weise tonlos, dass es Arri einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. »Ich... ich habe ihn fast so lange gehabt, wie ich mich erinnern kann«, fuhr sie fort. »Er war mein Freund, und... und er hat mich beschützt, aber er... er hat ihn einfach... erschlagen.« Ihre Stimme brach, und ihre Augen füllten sich endgültig mit Tränen.
»Um ein Haar hätte er dich erschlagen«, sagte Arri leise. Die Worte waren als Trost gemeint, ohne jeden Vorwurf, aber für einen winzigen Moment blitzte es in Runas Augen fast hasserfüllt auf. »Ja«, zischte sie zitternd, »und dafür wird mein Vater sie töten!«
Und wenn nicht er, dann meine Mutter bestimmt, fügte Arri in Gedanken hinzu.
Was sie wieder zu der Frage brachte, wo Lea überhaupt war.
Nun, hier unten jedenfalls nicht. Sie warf Runa einen auffordernden Blick zu, auf den das Mädchen jedoch nur mit einem stummen Kopfschütteln und einem Blick auf den Schacht hinter Arri antwortete, aus dem noch immer die verzerrten Stimmen der beiden Männer drangen. Kurz darauf erscholl ein gedämpftes Scharren und Ächzen, und Arri konnte regelrecht vor ihrem inneren Auge sehen, wie sich einer der breitschultrigen Männer vergeblich in den schmalen Schacht zu quetschen versuchte. Vielleicht tat er ihnen ja den Gefallen und erstickte in der Enge des Ganges.
»Was haben sie dir gesagt, damit du mich nach draußen lockst?«, fragte sie leise.
»Nichts anderes als dir«, antwortete Runa trotzig. »Dass es ihnen Leid tut und sie mit dir reden wollen, damit du bei deiner Mutter ein gutes Wort für sie einlegst.«
Und das hast du geglaubt?, dachte Arri, hütete sich jedoch, auch diesen Gedanken laut auszusprechen, aber Runa schien ihn wohl so deutlich von ihrem Gesicht abzulesen, als hätte sie es getan, denn der Ausdruck in ihren Augen wandelte sich nun von reinem Trotz in Feindseligkeit. »Sie haben behauptet, dass sie nur mit dir reden wollen«, wiederholte sie stur. Ihre Stimme bebte immer heftiger, und die Tränen liefen jetzt ungehemmt über ihr Gesicht.
Arri entschuldigte sich in Gedanken bei dem Mädchen. Ganz zweifellos hatte Runa nicht geglaubt, dass die beiden Fremden nur mit ihr reden wollten. So einfältig konnte sie nicht sein. Aber ebenso zweifellos hatte das Mädchen nicht erwarten können, was nun wirklich geschah - schließlich hatten die beiden ja auch versucht, sie umzubringen, und sie hatten ihren Wolf getötet. Eben noch war Arri fast sicher gewesen, dass Runas Erschütterung über den Verlust des Wolfes zum allergrößten Teil dem Umstand galt, dass sie sich seines Schutzes beraubt sah. Nun aber begriff sie, dass das ganz und gar nicht stimmte. Das Mädchen hatte den Wolf geliebt, sicherlich auch, aber ganz und gar nicht nur wegen seiner Stärke und Wildheit und dem Schutz, den beides für sie bedeutete. Er war ihr Freund gewesen.
»Wie lange müssen wir noch hier bleiben?«, fragte sie, größtenteils nur, um Runa auf andere Gedanken zu bringen.
Das Mädchen lauschte wieder, dann machte es eine Kopfbewegung hinter sich, tiefer hinein in die bedrohliche Dunkelheit, die den Durchgang ausfüllte. Worin der Unterschied bestand, war Arri nicht ganz klar, denn die Stimmen auf der anderen Seite der Wand waren immer noch zu hören, aber sie musste wohl oder übel darauf vertrauen, dass Runa wusste, was sie tat. Schließlich ging es auch um ihr Leben.
Auf Händen und Knien folgte sie Runa. Der Stollen wurde schon nach wenigen Schritten wieder so niedrig, dass sie ein gutes Stück weit auf dem Bauch kriechend zurücklegen mussten, und Arris Platzangst meldete sich prompt zurück; obwohl zwischen ihrem Rücken und der Decke noch eine gute Handbreit Luft war, bildete sie sich trotzdem ein, das Gewicht der Felsen zu spüren, die auf ihr lasteten und es ihr immer schwerer und schwerer machten zu atmen.
»Wieso sind diese Gänge so niedrig?«, keuchte sie. »Kein Mensch kann doch hier drinnen arbeiten!«
»Wir folgen den Erzadern im Gestein«, antwortete Runa aus der Dunkelheit vor ihr. »Es ist unnötig, so viel Felsen wegzubrechen, der kein Erz enthält.«
»Wie um alles in der Welt arbeiten dein Vater und die anderen hier drinnen?«, keuchte Arri. »Kratzen sie das Erz mit den Fingernägeln aus dem Stein?« Sie redete im Grunde nur, um ihre Angst zu bekämpfen, während sie sich Stück für Stück über den rauen Boden zog. Der Fels war so scharfkantig, dass ihre Fingerspitzen und Handflächen längst wund gescheuert waren und bluteten, und wie ihre Knie und Zehenspitzen aussahen, wagte sie sich gar nicht erst vorzustellen. Zweifellos hatte sie sich ihre Kleider zerrissen, worüber ihre Mutter sehr zornig sein würde.
Der Gedanke war so absurd, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte. Ihre Mutter würde froh sein, sie noch einmal lebend wiederzusehen, und sie erleichtert in die Arme schließen - falls sie noch am Leben war, hieß das.