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Arri hatte gesehen, was ihr wahrscheinlich auf jeden Fall passieren würde - so dachte sie -, allenfalls ein wenig später, wenn sie tat, was die Männer von ihr verlangten. Aber sie war sich sicher, dass sie sie nicht am Leben lassen würden. Nicht nach dem, was sie gerade mit angesehen hatte. Dennoch presste sie die Lippen aufeinander, damit ihr auch nicht der geringste Laut entschlüpfte, der ihrem Gegenüber vielleicht als Vorwand dienen konnte, sie abermals zu schlagen oder ihr etwas Schlimmeres anzutun. Sie versuchte die bunten Lichtblitze und Schleier wegzublinzeln, die vor ihren Augen wogten; ihr Blick klärte sich nur ganz allmählich, und selbst nachdem er es getan hatte, war sie nicht sicher, ob sie wirklich sehen wollte, was sie sah. Der Mann stand nur einen halben Schritt vor ihr und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht, und was sie in seinen Augen las, das bestätigte ihre Vermutung nur. Er würde sie nicht am Leben lassen.

»Warum... warum habt ihr das getan?«, flüsterte sie mit leiser, bebender Stimme. »Warum habt ihr sie umgebracht? Sie... sie hat niemandem etwas getan!«

Ihr Gegenüber zog es vor, die Frage nicht zu beantworten. Stattdessen trat er einen halben Schritt zurück und maß sie mit einem neuerlichen, sehr aufmerksamen Blick von Kopf bis Fuß, und ein hässliches Lächeln und ein Ausdruck böser Vorfreude traten in seine Augen, die Arri schaudern ließen. »Du bist ganz und gar die Tochter deiner Mutter. Du kämpfst wie eine Wildkatze. Wenn du ein paar Jahre älter wärst, hättest du uns wirklich Schwierigkeiten machen können, weißt du das?«

Arri hielt seinem Blick stand, dann aber senkte sie den Kopf und sah wieder auf Runas leblosen Körper hinab. Für einen einzigen, winzigen Moment kam es ihr so vor, als bewege er sich, aber ihre verzweifelte Hoffnung, dass vielleicht doch noch eine Spur von Leben in ihr sein könnte, verblasste so schnell, wie sie gekommen war. Es war nur das Spiel von Licht und Schatten gewesen, das ihr diese vermeintliche Bewegung vorgegaukelt hatte.

»Warum habt ihr sie umgebracht?«, fragte sie noch einmal. Sie bekam auch diesmal keine Antwort, aber plötzlich fühlte sie, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Keine Tränen der Angst oder des Schmerzes, sondern einer kalten, hilflosen Wut, die fast schlimmer war als körperlicher Schmerz. Es war so sinnlos gewesen. Runas Tod war schrecklich, aber viel entsetzlicher noch erschien ihr die Beiläufigkeit, mit der der Mann sie umgebracht hatte; einzig und allein aus dem Grund, dass sie von keinem Nutzen für ihn war und er sichergehen wollte, dass sie nicht schrie.

Die Schatten an den Wänden erwachten zu hektischem, flackerndem Leben, als der zweite Mann zurückkam und dabei die Fackel mitbrachte, die am Ende des Stollens gebrannt hatte. Sein Kamerad warf ihm einen fragenden Blick zu, ohne Arri dabei allerdings gänzlich aus den Augen zu lassen, erntete aber nur ein unwilliges Kopfschütteln. »Es ist alles ruhig. Niemand hat etwas gehört.«

»Gut.« Der andere drehte sich wieder ganz zu Arri um. »Und das gilt auch für dich. So lange du keinen Lärm machst oder zu fliehen versuchst, bleibst du am Leben.«

Und so lange sie sie noch brauchten, dachte Arri bitter. Mühsam riss sie ihren Blick von Runas leblosem Körper los und sah dem Mann vor sich so fest in die Augen, wie sie nur konnte. »Was wollt ihr von mir?«, fragte sie.

Der Mann antwortete nicht, aber sein Kamerad verzog die Lippen zu einem hässlichen Grinsen. »Da würde mir schon das eine oder andere einfallen. Du bist zwar abgrundtief hässlich und die Tochter einer Hexe, aber ich wüsste schon etwas mit dir anzufangen...« Er grinste noch breiter und sah dabei seinen Kumpanen ebenso fragend wie auffordernd an; der andere schien ernsthaft über seinen unausgesprochenen Vorschlag nachzudenken, schüttelte dann aber den Kopf.

»Dafür ist keine Zeit«, sagte er in leicht bedauerndem Ton. »Geh und such nach ihrer Mutter. Sag ihr, dass wir ihre Tochter haben und dass ihr kein Leid geschieht, wenn sie ihre Waffe ablegt und mit dir kommt.«

»Und wenn sie mir nicht glaubt?« Der Blick des anderen tastete abermals und diesmal ganz eindeutig gierig über Arris Gestalt.

»Dann ist es wohl besser, wenn du ihr einen Beweis mitbringst«, erwiderte sein Kumpan. Arris Augen wurden groß vor Schrecken, als seine Hand unter den Umhang glitt und mit einem kurzen, scharf geschliffenen Dolch wieder zum Vorschein kam. Keuchend versuchte sie, zurückzuweichen oder wenigstens den Kopf zur Seite zu werfen, doch der andere war schneller. Seine Hand grub sich in ihr Haar, riss ihr den Kopf nach hinten, und dann trennte der Dolch ihr eine gut handlange, dicke Strähne ihres hellen Haares ab. Arri stieß erleichtert die Luft zwischen den Zähnen aus und wich vorsichtshalber einen Schritt zur Seite, als der Mann sie endlich losließ und sich wieder zu seinem Begleiter umwandte. »Hier«, sagte er, während er ihm die Strähne hinhielt, »gib ihr das. Das wird sie überzeugen. So sonderbares Haar hat außer ihr selbst und ihrer Tochter hier niemand.«

Der Mann nahm die Haarsträhne zögernd entgegen. Er machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, hob aber schließlich nur die Schultern und händigte dem anderen die Fackel aus, bevor er sich umdrehte und davonging.

»Warum tut ihr das?«, murmelte Arri. »Was... was haben wir euch denn getan?«

Statt ihre Frage zu beantworten, trat der Mann wieder dichter an sie heran und hob die Fackel, um sie in ihrem flackernden roten Licht noch einmal zu betrachten, und vielleicht war der Blick, mit dem er sie nun maß, schlimmer als alles andere zuvor. Arri versuchte, weiter vor ihm zurückzuweichen, aber hinter ihr war nur harter Fels. Ihr Herz jagte.

»Warum wir das tun?« Der Mann beendete seine Musterung und schien einige Mühe zu haben, sich wieder auf ihr Gesicht zu konzentrieren. »Das fragst du auch noch? Tust du so, oder hast du wirklich keine Ahnung?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, antwortete Arri. »Ich habe euch nichts getan. Und meine Mutter auch nicht.«

»Du lügst. Aber das wird dir auch nichts mehr nutzen, Hexenkind. Deine Mutter hat mit ihren Zauberkräften lange genug Unheil über uns gebracht. Und jetzt sei still. Du kannst noch früh genug reden, aber erst, wenn deine Mutter dabei ist.«

»Meine Mutter«, antwortete Arri leise, »wird dich töten. Und deinen Freund auch. Und wenn nicht sie, dann Runas Vater.«

»Kaum«, antwortete der Mann. »Er wird uns dankbar sein, wenn er erst einmal erfährt, welch heimtückisches Spiel deine Mutter mit ihm und seiner Familie gespielt hat.«

»Aber sie hat doch nur...«, begann Arri.

Der Mann schlug sie warnungslos und blitzschnell und so hart, dass ihr Kopf schon wieder gegen den Stein schlug und ihre Unterlippe aufplatzte. »Du sollst still sein, habe ich gesagt!«, fauchte er.

Arri hob zitternd die Hand an ihr Gesicht, verbiss sich aber jeden Laut; und sei es nur, um ihm nicht die Genugtuung zu gönnen, sie wimmern zu hören. Sie schmeckte Blut, und ihre Lippe schwoll so rasch an, dass sie es spüren konnte. Trotzdem straffte sie nach einem Moment die Schultern und starrte ihn ebenso trotzig wie herausfordernd an - was vermutlich ein Fehler war, denn sie konnte dem Krieger ansehen, wie schwer es ihm jetzt fiel, sich nicht endgültig auf sie zu stürzen und mit Fäusten auf sie einzuschlagen.

Stattdessen trat er plötzlich wieder einen Schritt zurück, lehnte die Fackel so gegen die Wand, dass sie aufrecht stehen blieb und trotzdem weiter brannte, und zog abermals den Dolch unter dem Umhang hervor. Arri gab sich alle Mühe, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, als er erneut näher trat, und es gelang ihr auch einigermaßen, aber sie konnte ihren Blick nicht daran hindern, sich an der schimmernden Klinge festzusaugen. »Hast du Angst?«, fragte er lächelnd. »Das brauchst du nicht. Ich tu dir nicht weh - falls du mich nicht dazu zwingst, heißt das.«

Arri presste sich mit verzweifelter Kraft gegen den rauen Stein. Ihre Fingernägel kratzten über den Fels, und sie drückte sich so eng an die Wand, als könne sie sich hineinpressen, aber es gab keine Nische mehr, wohin sie noch flüchten konnte, und der Krieger kam langsam und unaufhaltsam näher.