»Arianrhod!«, keuchte sie entsetzt. »Arianrhod, bei der großen Göttin - was ist geschehen? Wer hat das getan?« Sie ließ das Schwert fallen, schloss Arri in beide Arme und drückte sie einen Herzschlag lang mit solcher Kraft an sich, dass ihr der Atem wegblieb, dann schob sie sie auf halbe Armeslänge von sich, um sie anzusehen. In das Entsetzen auf ihrem Gesicht mischte sich jähe Wut. »Wer hat das getan?«, wiederholte sie. »Arianrhod, sprich! Was ist geschehen?«
»Runa«, murmelte Arri. Tränen liefen ihr über das Gesicht, ohne dass sie es auch nur merkte. »Runa ist... ist tot.«
»Runa ist...«, keuchte ihre Mutter. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Einen Herzschlag lang starrte sie Arri aus ungläubig aufgerissenen, fast schwarzen Augen an, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und sah zu Targan. Der große Mann stand noch immer wie gelähmt neben dem enthaupteten Krieger, sah aber nun in ihre Richtung, und auch der Ausdruck auf seinem Gesicht begann sich ganz allmählich zu ändern. Aus ungläubigem Schrecken wurde Furcht, und dann etwas anderes, fast, als hätte er ihre Worte verstanden, obwohl das über die Entfernung hinweg schlichtweg unmöglich war. Vielleicht war das, was er in Leas Augen las, einfach zu eindeutig.
»Bist du sicher?«, wandte sich Lea wieder an Arri. Ihre Stimme bebte, wurde schärfer. »Was ist passiert? Wer... wer hat das getan?« Sie machte eine Kopfbewegung zu Targan und dem Toten zu seinen Füßen hin, aber Arri konnte nicht antworten, nicht einmal mehr mit einem Nicken.
Alles begann unwirklich zu werden. Die Stimme ihrer Mutter schien plötzlich wie von weit, unendlich weit her zu dringen, und ihr Gesicht begann sich vor ihren Augen zu verzerren. Sie verlor die Sinne, und sie konnte es spüren. Alle Kraft schien wie Blut aus einer klaffenden Wunde aus ihr herauszufließen, und eine sonderbar warme Dunkelheit griff nach ihren Gedanken und lullte sie langsam, aber auch unaufhaltsam ein. Aber sie durfte nicht ohnmächtig werden. Nicht jetzt. Sie musste ihrer Mutter sagen, was passiert war, und Targan...
»Arianrhod!« Lea ergriff sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Was ist passiert? Antworte!«
Arri wollte es ja, aber sie konnte es nicht, und dann musste sie es auch nicht mehr.
Die Tür, durch die sie gerade selbst gestolpert war, flog mit einem Knall auf und gegen die Wand, und ein brennender Mann stürmte herein.
Es war, als hätte sie einen Blick direkt in den tiefsten Schlund der Hölle getan. Was sie sah, konnte nicht die Wirklichkeit sein! Der Mann war tot, vor ihren Augen verbrannt... und nun war er zurückgekommen, um sie zu holen und sie für das zu bestrafen, was sie ihm angetan hatte; vielleicht war es auch gerade anders herum, und die Unterwelt hatte ihn wieder ausgespieen, weil nicht einmal sie ihn haben wollte. Seltsamerweise hatte Arri nicht einmal Angst. Sie glaubte nicht, was sie sah. Es war vollkommen unmöglich. Der Mann war tot, und sie hatte endgültig das Bewusstsein verloren und durchlebte eine Fieberphantasie, in der sie die grässlichsten Bilder quälten, die nichts anderes als Ausdruck ihres schlechten Gewissens waren, einem Menschen diese unvorstellbare Qual angetan zu haben.
Sie wollte die Augen schließen und sich in die schützende Umarmung ihrer Mutter sinken lassen, den einzigen Platz auf der Welt, an dem sie wirklich Sicherheit finden konnte, aber die grässliche Vision gab keine Ruhe. Statt durch die Erkenntnis und ihre wirkliche Natur ihrer Daseinsberechtigung beraubt zu sein und zu verschwinden, machte die Erscheinung einen weiteren, lodernden Schritt in den Raum hinein, und plötzlich klang rings um sie herum ein Chor gellender Schreie auf. Die unsägliche Gestalt torkelte weiter, streckte zwei lodernde Arme in ihre Richtung aus, um sie endgültig zu umarmen und mit sich ins Verderben zu reißen, und ihre Mutter sprang auf, schwang das Schwert und rammte es dem Trugbild mit solcher Wucht in die Brust, dass es zurück und mit hoch geworfenen Armen gegen die Wand taumelte.
Die Wand fing Feuer, schlagartig und so gewaltig, als wäre sie mit Lampenöl getränkt. Lea riss ihr Schwert zurück, und der brennende Mann streckte nun die Arme nach ihr aus und machte einen weiteren Schritt, bei dem er brennenden Stoff und Fleischfetzen rings um sich herum verteilte. Beinahe augenblicklich brach in dem großen Raum Panik aus. Schreie gellten auf, überall waren plötzlich hastige, trampelnde Schritte, heftige Geräusche, und Lea schwang ihre Zauberklinge und führte einen weiteren, gewaltigen Hieb gegen den lodernden Dämon, der seinen rechten Arm dicht unterhalb der Schulter traf und kurzerhand abtrennte. Trotzdem torkelte die Gestalt weiter, setzte mit ihren Schritten den Boden und Felle und Decken der Schlafstätten in Brand und versuchte mit dem verbliebenen Arm nach Lea zu schlagen, bevor diese den Angreifer mit einem weiteren, noch gewaltigeren Schwerthieb endgültig zu Fall brachte.
Wieder drohten Arri die Sinne zu schwinden, und vielleicht hatte sie für einen Moment tatsächlich das Bewusstsein verloren, denn das Nächste, was sie wahrnahm, war die Hand ihrer Mutter, die sie grob am Arm packte und in die Höhe zerrte. Sie stolperte, fiel, und fand wieder in ihren Schritt zurück, als ihre Mutter sie mit sich zerrte. Schreie und Lärm und abscheulich zuckendes, rotes Licht vermischten sich um sie herum zu einem grauenhaften Bild, wie es grässlicher nicht den schlimmsten Albträumen entspringen konnte. Schwarzer, in der Kehle brennender Rauch erfüllte mit einem Mal die Luft, und die ganze Welt schien sich zu drehen und ins Wanken zu geraten. Jemand prallte gegen sie, riss sie um ein Haar von den Füßen und wurde wieder von dem tobenden Feuer ringsum verschlungen, als Lea ihn wegstieß und Arri gleichzeitig weiter zerrte.
Stolpernd und von ihrer Mutter abwechselnd gezogen und gestoßen, erreichten sie endlich die Tür und prallten so hart gegen den Rahmen, dass Arri tatsächlich stürzte. Ihre Mutter versuchte, sie wieder in die Höhe zu zerren, verlor durch die hastige Bewegung selbst das Gleichgewicht und sank ungeschickt auf ein Knie herab; allerdings nur, um sich sofort wieder hochzustemmen und gleichzeitig nach Arris Arm zu greifen.
Sie hatte gedacht, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte, aber als sie sich im Aufstehen umwandte und zurücksah, erwies sich diese Erwartung als falsch: Es konnte immer schlimmer kommen.
Der große Raum hatte sich endgültig in einen Ort der Verdammnis verwandelt, wie ihn selbst Sarn nicht in seinen schlimmsten, vom übermäßigen Genuss berauschender Pilze hervorgestöhnten Hassreden hätte ausmalen können. Obwohl seit dem Moment, in dem der brennende Mann hier hereingekommen war, kaum Zeit vergangen sein konnte, hatte mittlerweile die gesamte rückwärtige Wand Feuer gefangen. Arri hatte das entsetzliche Gefühl, dass sich die brennende Gestalt des Kriegers noch immer inmitten der roten und gelben Hölle bewegte, als versuche er, aufzustehen und ihnen zu folgen, obwohl das vollkommen unmöglich war. Ihre Mutter hatte ihn mit dem Schwert durchbohrt, und er musste tot sein; es war nur eine Täuschung, die durch das zuckende Licht und ihre eigene Furcht zustande kam.
Und die Flammen beschränkten sich nicht nur auf die hölzerne Wand, gegen die der sterbende Krieger geprallt war. Auch aus der offen stehenden Tür hinter ihm zuckte gelber und weißer Feuerschein, gefolgt von fettigem, schwarzem Qualm, der sich unter dem Türsturz hindurchschlängelte und brodelnd nach oben kroch. Schon in den wenigen Atemzügen, die Arri und ihre Mutter gebraucht hatten, um die Tür zu erreichen, hatte sich eine schwarze Gewitterwolke unter der Decke gebildet, die mit fast unheimlicher Schnelligkeit wuchs. Was immer Targans Familie in dem kleinen Raum hinter der Tür gelagert hatte, brannte wie Pech.