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Im Dorf hat die Geschichte ungeheures Aufsehen erregt, aber die arme Miss Harbottle musste fort und wohnt jetzt höchst unkomfortabel in möblierten Zimmern in Eastbourne. Es gab natürlich allerhand Gerede, aber ich glaube nicht, dass etwas daran war. Der alte Mann fand es wohl einfach angenehmer, von einem fröhlichen jungen Mädchen gesagt zu bekommen, wie klug und amüsant er sei, als sich von seiner Schwester ständig seine Fehler vorhalten zu lassen, auch wenn sie eine gute Wirtschafterin war.»

Nach einer kurzen Pause fuhr Miss Marple fort: «Und dann der Drogist, Mr. Badger. Hat viel Aufhebens von der jungen Verkäuferin in seiner Kosmetikabteilung gemacht und seiner Frau gesagt, sie müssten sie wie eine Tochter behandeln und sie zu sich ins Haus nehmen. Mrs. Badger war da natürlich anderer Meinung.»

«Wenn es wenigstens ein Mädchen aus seinen eigenen Kreisen gewesen wäre, die Tochter eines Freundes…»

«Aber das wäre doch nicht annähernd so befriedigend für ihn gewesen!», unterbrach ihn Miss Marple. «Es ist wie mit König Cophetua und der Bettlerin. Für einen müden, einsamen alten Mann, dessen Familie ihn möglicherweise vernachlässigt» – sie schwieg einen Moment – «ist es doch wesentlich reizvoller, sich um jemanden zu kümmern, der von seiner Großzügigkeit ganz überwältigt ist, um es etwas melodramatisch auszudrücken. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Er fühlt sich dadurch ungleich bedeutender – der gütige Monarch! Und die Beschenkte ist tiefer beeindruckt, was für den alten Mann ebenfalls ein sehr angenehmes Gefühl ist.»

Sie hielt kurz inne und erzählte dann weiter: «Mr. Badger machte dem Mädchen die üppigsten Geschenke: ein Brillantarmband und einen sündhaft teuren Radioapparat mit Plattenspieler. Hat dafür einen Großteil seiner Ersparnisse ausgegeben. Aber Mrs. Badger, die um einiges schlauer war als die arme Miss Harbottle – die Ehe ist da ein guter Ratgeber –, hat sich die Mühe gemacht, genauer nachzuforschen. Sie fand heraus, dass das Mädchen mit einem höchst zweifelhaften jungen Mann liiert war, der etwas mit Pferderennen zu tun hatte, und dass sie das Armband versetzt und ihm das Geld gegeben hatte. Mr. Badger war hell empört, und die Affäre nahm ein glimpfliches Ende. Zum nächsten Weihnachtsfest hat er seiner Frau einen Brillantring geschenkt.»

Miss Marples freundliche, kluge Augen begegneten denen Sir Henrys. Er fragte sich, ob sie ihm mit ihrer Geschichte einen Hinweis geben wollte.

«Wollen Sie damit andeuten», sagte er, «dass sich die Einstellung meines Freundes zu Ruby Keene geändert hätte, wenn es einen jungen Mann in ihrem Leben gegeben hätte?»

«Ich denke schon. Mag sein, dass er in ein, zwei Jahren selbst eine Heirat für sie arrangiert hätte – was allerdings eher unwahrscheinlich ist; Männer sind ja im Allgemeinen ziemlich egoistisch. Jedenfalls hätte Ruby Keene, wenn sie einen Freund gehabt hätte, bestimmt nichts darüber verlauten lassen.»

«Und das hätte ihr der junge Mann übel genommen?»

«Das ist in meinen Augen die plausibelste Erklärung. Wissen Sie, mir ist aufgefallen, dass Rubys Kusine, die junge Frau, die heute Morgen in Gossington Hall war, richtiggehend wütend auf das tote Mädchen zu sein schien. Und was Sie mir erzählt haben, würde auch erklären, warum. Sie hatte sich zweifellos schon darauf gefreut, ein großes Stück von dem Kuchen abzubekommen.»

«Also ein kalt berechnender Charakter?»

«Das wäre ein zu hartes Urteil. Die Arme muss ihren Lebensunterhalt sauer verdienen, da kann man nicht von ihr erwarten, dass sie sich groß darüber grämt, wenn ein wohlhabender Mann und eine wohlhabende Frau – so haben Sie Mr. Gaskell und Mrs. Jefferson ja beschrieben – um eine hohe Summe gebracht werden, auf die sie im Grunde keinerlei moralischen Anspruch haben. Miss Turner ist eine praktisch denkende, ehrgeizige junge Frau, würde ich sagen, gutartig und recht lebenslustig. Ein bisschen wie Jessie Golden, die Bäckerstochter.»

«Was war mit der?», wollte Sir Henry wissen.

«Sie ließ sich als Kindermädchen ausbilden und heiratete den Sohn des Hauses, der auf Urlaub aus Indien da war. War ihm eine sehr gute Frau, soviel ich weiß.»

Sir Henry holte seine Gedanken von diesen faszinierenden Nebengleisen zurück und fragte: «Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen, warum mein Freund Conway Jefferson plötzlich diesen ‹Cophetua-Komplex›, wenn Sie so wollen, entwickelt hat?»

«Ich denke schon.»

«Und welchen?»

Miss Marple zögerte einen Moment.

«Es könnte sein – das ist natürlich nur eine Vermutung –, dass sein Schwiegersohn und seine Schwiegertochter wieder heiraten wollten.»

«Dagegen hätte er doch gewiss nichts einzuwenden.»

«Nein, nein, natürlich nicht. Aber betrachten Sie es einmal von seinem Standpunkt aus. Er hat Furchtbares durchgemacht, hat einen schweren Verlust erlitten, ebenso wie Mrs. Jefferson und Mr. Gaskell. Die drei leben zusammen, und was sie verbindet, ist eben dieser Verlust. Aber die Zeit heilt alle Wunden, wie meine liebe Mutter immer zu sagen pflegte. Mr. Gaskell und Mrs. Jefferson sind noch jung. Ohne dass es ihnen bewusst ist, mag eine gewisse Unruhe in ihnen aufgekommen sein, und sie beginnen sich durch ihre Lebenssituation eingeengt zu fühlen. Vielleicht hat der alte Mr. Jefferson plötzlich eine unerklärliche Distanziertheit an ihnen bemerkt. Wie das eben so geht – Männer fühlen sich ja so leicht vernachlässigt. Bei den Harbottles lag das an Miss Harbottles Reise, bei den Badgers an Mrs. Badgers’ Interesse für den Spiritismus und die Séancen, zu denen sie alle naslang ging.»

«Ich muss sagen», beklagte sich Sir Henry, «es gefällt mir nicht, wie Sie uns Männer ständig in einen Topf werfen.»

Miss Marple schüttelte betrübt den Kopf. «Die menschliche Natur ist überall mehr oder weniger die gleiche, Sir Henry.»

«Mr. Harbottle! Mr. Badger! Und der arme Conway! Ich möchte ja nicht persönlich werden, aber haben Sie in Ihrem Dorf nicht auch eine Parallele für meine Wenigkeit?»

«Doch, durchaus: Briggs.»

«Wer ist Briggs?»

«Der Obergärtner in Old Hall. Der beste, den sie dort je hatten. Hat es immer sofort gemerkt, wenn einer der Untergärtner herumgetrödelt hat – geradezu unheimlich war das! Kam mit nur drei Mann und einem Lehrling aus, und der Park war gepflegter, als wenn er sechs Leute unter sich gehabt hätte. Hat mit seinen Gartenwicken mehrmals den ersten Preis gewonnen. Ist jetzt im Ruhestand.»

«Wie ich», sagte Sir Henry.

«Aber er übernimmt noch Gelegenheitsarbeiten – wenn er die Leute mag.»

«Aha. Auch wie ich. Genau das mache ich ja jetzt: Gelegenheitsarbeit – um einem alten Freund zu helfen.»

«Zwei alten Freunden.»

«Zweien?», fragte Sir Henry leicht verwundert.

«Sie meinen sicher Mr. Jefferson, aber an den dachte ich gerade gar nicht. Ich dachte an Colonel und Mrs. Bantry.»

«Ah ja, verstehe.» Dann fragte er unvermittelt: «Haben Sie Dolly Bantry deshalb vorhin ‹die Ärmste› genannt?»

«Ja. Sie hat die Lage noch nicht annähernd erfasst – im Gegensatz zu mir, ich habe da mehr Erfahrung. Sehen Sie, Sir Henry, nach meinem Eindruck wird dieses Verbrechen aller Wahrscheinlichkeit nach zu jenen gehören, die niemals aufgeklärt werden. Wie die Schrankkoffer-Morde von Brighton. Und das wäre für die Bantrys absolut verheerend. Colonel Bantry ist wie fast alle ehemaligen Militärs extrem sensibel. Er reagiert äußerst empfindlich auf die öffentliche Meinung. Eine Zeit lang wird er es noch nicht merken, aber nach und nach wird es ihm bewusst werden: eine Kränkung hier, eine Abfuhr da, ausbleibende Einladungen, Ausflüchte – und eines Tages ist ihm alles klar, und er zieht sich in sein Schneckenhaus zurück und verfällt in schwärzeste Trübsal.»

«Verstehe ich Sie recht, Miss Marple? Sie meinen, da die Leiche in seiner Bibliothek gefunden wurde, werden die Leute denken, er hätte etwas mit der Sache zu tun?»