«Natürlich! Ich bin sicher, es wird bereits geredet. Und es wird immer mehr geredet werden. Die Leute werden den Bantrys zunehmend die kalte Schulter zeigen, und deshalb muss der Fall unbedingt aufgeklärt werden. Das ist auch der Grund, warum ich eingewilligt habe, Mrs. Bantry hierher zu begleiten. Eine offene Anklage ist eine Sache, damit wird ein Soldat leicht fertig. Er ist empört, aber er kann kämpfen. Getuschel hinter seinem Rücken ist etwas ganz anderes – es wird ihn vernichten, ihn und seine Frau. Sie sehen also, Sir Henry, wir müssen die Wahrheit finden!»
«Haben Sie eine Vorstellung, wie die Leiche in sein Haus gekommen sein könnte? Es muss doch irgendeine Erklärung dafür geben. Irgendeinen Zusammenhang.»
«Aber sicher.»
«Zum letzten Mal gesehen wurde das Mädchen um zwanzig vor elf hier im Hotel. Um Mitternacht war sie nach Aussagen des Arztes tot. Nach Gossington sind es von hier aus etwa achtzehn Meilen, und bis zu der Abzweigung nach sechzehn Meilen ist die Straße gut. Ein starker Wagen schafft das in weit weniger als einer halben Stunde; fünfunddreißig Minuten würde im Schnitt jedes Auto brauchen. Aber warum jemand Ruby entweder hier töten und die Leiche nach Gossington bringen oder mit ihr nach Gossington fahren und sie dort erwürgen sollte, ist mir schleierhaft.»
«Verständlich – so ist es ja auch nicht gewesen.»
«Sie meinen, irgendein Bursche hat eine Fahrt mit ihr unternommen, sie unterwegs erwürgt und sie dann ins nächstbeste Haus geschleppt?»
«Ich meine nichts dergleichen. Meiner Ansicht nach war es ein minutiös geplanter Mord. Aber der Plan ist fehlgeschlagen.
» Sir Henry starrte sie an. «Und warum?»
«Es passieren ja die merkwürdigsten Dinge», sagte Miss Marple entschuldigend. «Wenn ich sagen würde, der Plan ist gescheitert, weil der Mensch nun einmal empfindsamer und verletzlicher ist als allgemein angenommen, dann würde sich das nicht sehr vernünftig anhören, nicht wahr? Aber genau das glaube ich, und…»
Sie brach ab. «Ah, da kommt ja Mrs. Bantry.»
Neuntes Kapitel
Mrs. Bantry kam mit Adelaide Jefferson heran. Als sie Sir Henry sah, rief sie: «Sie hier?»
«Höchstpersönlich.»
Er nahm ihre beiden Hände und drückte sie voll Wärme. «Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid mir das alles tut, Mrs. B.»
«Nennen Sie mich nicht Mrs. B.!», rief Mrs. Bantry mechanisch und fuhr dann fort: «Arthur ist nicht hier. Er nimmt sich das alles so zu Herzen. Aber Miss Marple und ich wollen ein bisschen Detektiv spielen. Kennen Sie Mrs. Jefferson?»
«Aber gewiss.»
Man gab sich die Hand, und Adelaide Jefferson sagte: «Haben Sie schon mit meinem Schwiegervater gesprochen?»
«Ja.»
«Das ist gut. Wir machen uns solche Sorgen um ihn. Es war ein furchtbarer Schock für ihn.»
«Wollen wir nicht auf der Terrasse etwas trinken?», fragte Mrs. Bantry, «dann können wir uns in Ruhe über alles unterhalten.»
Sie gingen hinaus und gesellten sich zu Mark Gaskell, der allein am anderen Ende der Terrasse saß.
Nachdem man ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht hatte und die Getränke gebracht worden waren, steuerte Mrs. Bantry in ihrer üblichen Direktheit geradewegs auf ihr Ziel zu.
«Wir können doch darüber reden, nicht wahr?», fragte sie. «Schließlich sind wir ja alte Freunde, Miss Marple ausgenommen, aber sie ist die Expertin für Verbrechen. Sie möchte uns helfen.»
Mark Gaskell sah Miss Marple ein wenig beunruhigt an und fragte skeptisch: «Schreiben Sie, äh, Kriminalromane?»
Die merkwürdigsten Leute schrieben ja Kriminalromane, und Miss Marple sah in ihren altmodischen Altjungfernkleidern ganz besonders merkwürdig aus.
«Aber nein, dazu fehlt mir das Talent.»
«Sie ist großartig», sagte Mrs. Bantry ungeduldig. «Ich kann das jetzt nicht erklären, aber es ist so. Also, Addie, ich möchte alles wissen. Wie war sie eigentlich, diese Ruby Keene?»
«Nun…» Adelaide Jefferson hielt inne, warf Mark einen Blick zu und musste ein wenig lachen. «Du bist so direkt», sagte sie.
«Mochtet ihr sie?»
«Nein, natürlich nicht.»
«Wie war sie denn nun?» Mrs. Bantry verlagerte ihre Nachforschungen auf Mark Gaskell.
«Gewöhnlich. War nur aufs Geld aus. Wusste genau, wie sie’s anstellen muss. Hatte Jeff fest am Haken.»
Beide nannten ihren Schwiegervater Jeff.
Taktloser Bursche, dachte Sir Henry mit einem missbilligenden Blick auf Mark. Etwas Zurückhaltung könnte ihm nicht schaden. Er hatte Mark Gaskell nie sonderlich gemocht. Der Mann war charmant, aber unzuverlässig, er redete zu viel, prahlte gelegentlich – nicht unbedingt jemand, dem man Vertrauen entgegenbrachte. Sir Henry hatte sich manchmal gefragt, ob Conway Jefferson nicht ebenso dachte.
«Aber konnten Sie denn nichts tun?», fragte Mrs. Bantry.
«Schon», erwiderte Mark trocken, «wenn wir es rechtzeitig gemerkt hätten.»
Er warf Adelaide einen Blick zu, und sie errötete ein wenig. Ein Vorwurf lag in diesem Blick.
«Mark meint, ich hätte es voraussehen müssen», sagte sie.
«Du hast den alten Knaben zu viel allein gelassen, Addie. Die vielen Tennisstunden und das alles…»
«Ich brauchte nun mal Bewegung», sagte sie entschuldigend. «Ich hätte ja nicht im Traum gedacht…»
«Stimmt», unterbrach Mark, «wir beide hätten nicht im Traum daran gedacht. Jeff ist sonst ein so vernünftiger alter Knabe, bewahrt stets kühlen Kopf.»
«Männer», schaltete sich Miss Marple ein, «sind oft bei weitem nicht so nüchtern, wie man glaubt.» Auf ihre altjüngferliche Art sprach sie vom anderen Geschlecht wie von einer Spezies wilder Tiere.
«Da haben Sie Recht», sagte Mark. «Aber leider, Miss Marple, haben wir uns das nicht klargemacht. Wir haben uns nur gefragt, was der alte Knabe an diesem unscheinbaren, verlogenen kleinen Biest findet. Andererseits waren wir froh, dass er sich so gut amüsiert hat. Schaden kann es nichts, dachten wir. Von wegen! Ich wollte, ich hätte ihr den Hals umgedreht!»
«Mark», sagte Addie, «du solltest wirklich aufpassen, was du sagst.»
Er grinste sie freundlich an.
«Sollte ich, ja. Sonst denkt man, ich hätte ihr tatsächlich den Hals umgedreht. Aber was soll’s, ich werde ja wohl sowieso verdächtigt. Wenn jemand ein Interesse am Tod des Mädchens hatte, dann Addie und ich.»
«Mark!», rief Mrs. Jefferson halb lachend und halb ärgerlich. «Ich bitte dich!»
«Schon gut, schon gut», beschwichtigte Mark Gaskell. «Ich sage nun mal gern, was ich denke. Fünfzigtausend Pfund wollte unser geschätzter Schwiegervater dieser halbgaren, durchtriebenen Mieze aussetzen!»
«Mark, bitte! Sie ist tot.»
«Ja, sie ist tot, das arme kleine Luder. Aber warum hätte sie nicht die Waffen einer Frau einsetzen sollen? Steht mir darüber ein Urteil zu? Hab in meinem Leben selbst genug Schandtaten begangen. Sagen wir also, Ruby hatte jedes Recht, ihr Süppchen zu kochen, wir waren nur zu dumm, es ihr rechtzeitig zu versalzen.»
«Was haben Sie gesagt, als Conway Ihnen eröffnet hat, dass er das Mädchen adoptieren will?», fragte Sir Henry.
Mark breitete die Arme aus. «Was sollten wir groß sagen? Addie ist ja immer ganz Dame und hat sich bewundernswert beherrscht. Hat sich nichts anmerken lassen. Und ich hab mich bemüht, ihrem Beispiel zu folgen.»
«Also, ich hätte mich da furchtbar aufgeregt!», warf Mrs. Bantry ein.
«Dazu hatten wir, offen gestanden, nicht das Recht. Es ist Jeffs Geld, und wir sind nicht blutsverwandt mit ihm. Er war immer verdammt nett zu uns. Wir konnten nichts tun als die Kröte schlucken.» Nachdenklich fügte er hinzu: «Aber begeistert waren wir natürlich nicht.»