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Die Liste. Irgendwie sieht sie immer noch zu kurz aus. Ich muss in größerem Maßstab denken, über die gegenwärtige Situation hinaus, wo ich von größter Bedeutung bin, in die Zukunft, wenn ich vielleicht gar nichts mehr wert bin. Sollte ich nicht noch mehr verlangen? Für meine Familie? Für die Überlebenden aus meinem Heimatdistrikt? Ich spüre wieder die Asche der Toten auf meiner Haut. Wieder stoße ich mit dem Schuh gegen den Totenschädel. Und wieder sticht mir der Geruch von Blut und Rosen in die Nase.

Der Stift bewegt sich von allein über das Blatt. Ich öffne die Augen und sehe die krakeligen Buchstaben. ICH TÖTE SNOW. Wenn er gefangen genommen wird, möchte ich dieses Vorrecht.

Plutarch hüstelt diskret. »So weit fertig?« Ich blicke kurz auf und sehe zur Uhr. Zwanzig Minuten sind vergangen. Finnick ist nicht der Einzige, der Probleme mit der Konzentration hat.

»Ja«, sage ich. Meine Stimme klingt heiser, ich räuspere mich. »Ja, also: Das ist die Abmachung. Ich werde euer Spotttölpel sein.«

Ich halte inne, damit sie erleichtert aufseufzen, einander gratulieren und auf die Schulter klopfen können. Nur Coin bleibt wie immer gelassen und sieht mich unbeeindruckt an.

»Aber nur unter ein paar Bedingungen.« Ich streiche die Liste glatt und beginne zu lesen. »Meine Familie darf den Kater behalten.« Schon meine geringste Forderung löst eine Diskussion aus. Die Rebellen aus dem Kapitol sehen darin kein Problem - selbstverständlich kann ich mein Haustier behalten -, während die aus Distrikt 13 die großen Schwierigkeiten zu bedenken geben, die das mit sich brächte. Schließlich einigen sie sich darauf, dass wir in die oberste Ebene umziehen, die den Luxus eines kleinen Fensters über Tage bietet. Da kann Butterblume kommen und gehen, wann er will. Er muss sich allerdings selbst ernähren. Wenn er die Sperrstunde verpasst, wird er ausgeschlossen und muss draußen übernachten. Sollte er irgendwelche Sicherheitsprobleme verursachen, wird er unverzüglich abgeschossen.

Das klingt okay. Viel anders hat er seit seiner Ankunft hier sowieso nicht gelebt. Bis auf das Abgeschossenwerden. Wenn er zu sehr abmagert, kann ich wohl ein paar Innereien für ihn abzwacken - vorausgesetzt, meiner nächsten Bitte wird entsprochen.

»Ich will jagen. Zusammen mit Gale. Draußen im Wald«, sage ich. Allgemeines Schweigen.

»Wir werden nicht weit gehen. Wir benutzen unsere eigenen Bogen. Und das Fleisch bekommt ihr für die Küche«, ergänzt Gale.

Bevor irgendjemand Nein sagen kann, rede ich schnell weiter. »Ich … ich kann einfach nicht atmen, wenn ich so eingeschlossen bin … Ich würde schneller werden, besser, wenn ich … jagen könnte.«

Plutarch hebt an, um uns die Nachteile darzulegen, die Gefahren, die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, das Risiko einer Verletzung, doch Coin unterbricht ihn. »Nein. Lasst sie. Zieht von ihrer Trainingszeit täglich zwei Stunden ab. Vierhundert Meter Radius. Mit Funkgeräten und Aufspürringen an den Knöcheln. Was noch?«

Ich überfliege meine Liste. »Gale. Ich brauche ihn an meiner Seite.«

»Wie, an deiner Seite? Abseits der Kameras? Die ganze Zeit? Möchtest du ihn als deinen neuen Geliebten präsentieren?«, fragt Coin.

Ich spüre keine Niedertracht in ihrer Stimme - im Gegenteil, ihre Worte sind geradezu nüchtern. Aber mir klappt trotzdem die Kinnlade runter. »Was?«

»Ich denke, wir sollten die Romanze so laufen lassen wie bisher. Wenn seine Geliebte sich so schnell von Peeta abwendet, könnten die Zuschauer sie weniger sympathisch finden«, sagt Plutarch. »Zumal sie ja glauben, dass sie sein Kind im Leib trägt.«

»Einverstanden. Und bei den Fernsehauftritten kann man Gale einfach als Gefolgsmann der Rebellen darstellen. Ist das in Ordnung?«, fragt Coin. Ich starre sie nur an. Ungeduldig wiederholt sie ihre Frage. »Was Gale betrifft. Reicht das?«

»Wir können ihn problemlos als deinen Cousin einbauen«, meint Fulvia.

»Wir sind aber keine Cousins«, sagen Gale und ich gleichzeitig.

»Das wissen wir, aber um den Schein zu wahren, sollten wir vor der Kamera weiter so tun, als ob«, sagt Plutarch. »Sobald die Kameras aus sind, gehört er dir allein. Noch was?«

Der Verlauf der Unterhaltung hat mich völlig verunsichert. Die Interpretation, dass ich Peeta so bereitwillig loswerden will, dass ich in Gale verliebt bin, dass alles nur geschauspielert war. Meine Wangen brennen. Allein die Vorstellung, dass ich unter den gegebenen Umständen einen einzigen Gedanken daran verschwenden könnte, wer als mein Geliebter präsentiert werden soll, ist erniedrigend. Ich bin so verärgert, dass ich mit der größten Forderung herausplatze. »Wenn der Krieg vorbei ist, also wenn wir gewonnen haben, dann wird Peeta begnadigt.«

Totenstille. Ich merke, wie Gales Körper sich verkrampft. Vermutlich hätte ich ihm doch vorher Bescheid sagen sollen, aber ich war mir nicht sicher, wie er darauf reagiert hätte. Weil es ja um Peeta ging.

»Es wird keine Strafe gegen ihn verhängt«, fahre ich fort, und dabei kommt mir ein neuer Gedanke. »Das Gleiche gilt für die anderen gefangenen Tribute, Johanna und Enobaria.« Ehrlich gesagt ist Enobaria, meine grausame Gegnerin aus Distrikt 2, mir herzlich egal. Ich kann sie nicht leiden, aber ich finde es trotzdem nicht richtig, sie außen vor zu lassen. »Nein«, sagt Coin kategorisch.

»Doch«, schieße ich zurück. »Es ist nicht ihre Schuld, dass ihr sie in der Arena zurückgelassen habt. Wer weiß, was das Kapitol mit ihnen anstellt?«

»Sie werden wie alle Kriegsgefangenen vor Gericht gestellt und entsprechend ihrem Urteil behandelt«, sagt sie.

»Ihr werdet ihnen Straffreiheit garantieren!« Ich springe auf und spreche mit kräftiger, tönender Stimme. »Und Sie persönlich werden das vor der gesamten Bevölkerung von Distrikt 13 und den Überlebenden aus 12 zusichern. Bald. Noch heute. Und das wird für spätere Generationen aufgezeichnet. Sie und Ihre Regierung werden persönlich für die Sicherheit der Tribute garantieren oder Sie können sich einen anderen Spotttölpel suchen!«

Einen Augenblick lang hängen meine Worte in der Luft.

»Bingo!«, raunt Fulvia Plutarch zu. »Genau so brauchen wir sie. Dann noch das Kostüm, Geballer im Hintergrund, ein bisschen Qualm.«

»Ja, genau so wollen wir sie haben«, flüstert Plutarch zurück.

Am liebsten würde ich ihnen einen wütenden Blick zuwerfen, aber ich spüre, dass es ein Fehler wäre, Coin aus den Augen zu lassen. Sie kalkuliert still die Kosten meines Ultimatums, wiegt sie gegen meinen möglichen Wert ab.

»Was meinen Sie, Präsidentin?«, fragt Plutarch. »Sie könnten einen offiziellen Gnadenerlass verkünden angesichts der Umstände. Der Junge … er ist nicht mal volljährig.«

»Einverstanden«, sagt Coin schließlich. »Aber dann spielst du auch mit.«

»Ich spiele mit, sobald Sie die Sache verkündet haben«, erwidere ich.

»Beruft heute während der Besinnung die Nationale Sicherheitsversammlung ein«, ordnet Coin an. »Dort werde ich die Sache verkünden. Steht sonst noch was auf deiner Liste, Katniss?«

Das Blatt liegt jetzt zerknüllt in meiner rechten Faust. Ich streiche es auf dem Tisch glatt und lese die krakeligen Buchstaben. »Eins noch. Ich töte Snow.«

Zum ersten Mal überhaupt sehe ich die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen der Präsidentin. »Wenn es so weit ist, werfen wir eine Münze.«

Vielleicht hat sie recht. Ich bin bestimmt nicht die Einzige, die Anspruch auf Snows Leben hat. Und dass Coin das auch hinkriegen würde, davon kann ich wohl ausgehen. »Von mir aus.«

Coin wirft einen schnellen Blick auf ihr Handgelenk, die Uhr. Auch sie hat einen Zeitplan, den sie einhalten muss. »Ich überlasse sie jetzt Ihnen, Plutarch.« Mit diesen Worten verlässt sie den Raum, ihre Mannschaft im Schlepptau. Plutarch, Fulvia, Gale und ich bleiben allein zurück.