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ERSTER TEIL 

1 

Frühsommer 1315, um Trinitatis

Auf hoher See kam Sturm auf. Die Wasser hoben sich schwerfällig zu Brechern, rasten heran und fielen urplötzlich mit Getöse in sich zusammen.

In der Nacht entstanden auf einmal gefährliche Wirbel. Sie schleuderten die »König Philipp« ohne Vorwarnung herum, das Ruder musste in Windeseile verstärkt werden. Bald darauf sah die Besatzung jedoch die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen ein und gab das Achtersteuer auf. Haushohe Wellenkämme wälzten sich heran, warteten einen Moment wie triumphierend in der Höhe, als wollten sie ankündigen, gleich alles zu zerschlagen.

Auch die hart gesottensten Matrosen gerieten bei diesem Anblick außer sich und klammerten sich an die Halteseile. Die Deckaufbauten gerieten immer wieder unter eiskalte Wassermassen. Die Stürme machten sich ein Vergnügen daraus, das Schiff wie einen Spielball zu behandeln. Die Küsten des spanischen Festlandes, wohin man von den Balearen aus aufgebrochen war, schienen unerreichbar weit.

»Kehren wir um nach Mahon, denn Barcelona erreichen wir nie! Diese Fahrt ist verflucht!«

»Halt’s Maul! Sonst wirst du gekielholt!«

»Oder wir ersaufen alle!«

Wenn Henri de Roslin, den es nicht in seinem Kabinenverschlag auf dem Vorratsdeck hielt, nach vorn blickte, sah er eine graue Wasserwand. Schaute er zurück, sprühende, weiße Gischt. Der Himmel war niedrig, das Meer hautnah. Alles wollte zu Wasser werden. Und die Gespräche der Mannschaft wurden immer gereizter.

Es vergingen die Tage, die Nächte. Selbst die alten Seeleute beteten und schlugen Kreuze. Es war unmöglich, die Tage der Heiligen Dreifaltigkeit zu feiern. Wer von der Besatzung das Bedürfnis verspürte, das Glaubensgeheimnis der Dreieinigkeit Gottes zu begehen, wurde vom mitgereisten Priester vertröstet, der seekrank am Achtersteven saß.

Die einfachen Instrumente zeigten wegen des Schlingerns und des Falls ins Bodenlose längst nichts mehr an, gar nichts. Und die Vögel flogen nur noch so niedrig, dass sie sich in der Takelage verirrten. Henri sprach mit dem Kapitän, einem gedrungenen Katalanen, der Del Bosque hieß, darüber; gemeinsam beobachteten sie eine Seeschwalbe, die sich in den Tauen verhedderte. Das Tier schlug wild mit den Flügeln, es hing an einem Bein fest und hackte es sich am Abend ab. Henri erschien der Anblick wie ein böses Omen. Bevor der Meeresvogel in die Fluten stürzen konnte, sprang Henri hinzu und fing ihn auf. Er nahm sich vor, den Vogel zu pflegen, bis die spanische Küste in Sicht käme.

Dann, nach einer Woche Fahrt, unter Gebrauch des wieder getrockneten Magnetsteins und des noch immer mit einer dicken Salzkruste bedeckten Jakobstabs, glaubte Henri, der dem Navigator zur Hand ging, eine Küstenlinie auszumachen. Er starrte den ganzen Nachmittag hinaus in das trübe Grau, dann wusste er, dass es eine Täuschung war. Und auch der Schiffsjunge hoch oben im Ausguck schwieg.

Vor seinen Augen, die inzwischen ob der Anstrengung tränten, lag Wasser, das jede Begrenzungslinie nun wieder überspülte mit Sturzfluten von schäumenden Wellen. Die Welt versank im feuchten Element wie ein Kontinent, den jetzt die Sintflut holte.

Henri de Roslin grübelte darüber nach, wie unsicher das menschliche Leben war, wenn der Herrgott nicht auf ihrer Seite weilte. In Frankreich, woher Henri kam, herrschte nach dem gewaltsamen Tod des Königs das nackte Chaos. Und hier auf See drohte der endgültige Untergang. War denn nicht schon die Fahrt nach Menorca gefahrvoll genug gewesen? Hatten die Menschen etwas verbrochen, das dieses Unheil rechtfertigte? War er selbst, der Königsmörder Henri de Roslin, daran schuld? Henri spürte seine Zweifel und ein Schuldgefühl vor Gott, aber er wollte nicht beichten. Und der Priester, dem er nicht vertraute, murmelte nur ergeben das Motto von Trinitatis herunter: »Christus ist das Mensch gewordene Wort Gottes, aber wir beten zum Vater, durch Christus, im Heiligen Geist. Amen!«

Henris Grübeln nahm schnell ein Ende. Die banale Gegenwart nahm alle Sinne in Beschlag. Er musste sich krampfhaft an den Seilen festhalten. Er konnte nicht abschätzen, ob die Karavelle ausreichend seetüchtig war, um weitere Stürme auf offener See zu überstehen. Im Mahlwerk eines solchen Sturms schien sie verloren.

Die Seemänner an Bord waren gewiefte Handwerker und instrumentenkundige Navigatoren, auf allen bekannten Gewässern zu Hause. Aber konnten sie navigieren, wenn die Koordinaten in einem offensichtlich ungünstigen, göttlichen Ratschluss verloren gingen?

Die Matrosen fragten sich, was sie in den nächsten Stunden erwartete. Das Mittelmeer zwischen Menorca und der spanischen Ostküste war eine bekannte Zone, aber wenn die Prophezeiungen für dieses Jahr eintraten, von denen jeder munkelte, dann kehrte sich alles um. Dann versank die Welt in Dunkelheit, dann behielten die Unkenrufer zu Hause Recht. Und würde ihnen dann das Unvorstellbare hier im Süden der Weltenscheibe begegnen? Ein Antimond, schwarze Sterne, ein kopfstehender großer Wagen, das gehörnte Tierkreiszeichen des Stieres im Juni mit dem Schwanz eines Juli-Krebses? Furcht erregende Ausgeburten? Naturgewalten, die alles zermahlten, Wellen, die bis zum Himmel reichten und darüber hinaus? Strudel oder einfach nur Löcher im Wasser bis hinunter zum Grund?

Manche Seeleute an Bord hatten allerdings auch ohne den vorhergesagten Weltuntergang schon Wellen gesehen, die sich dreißig Meter hoch aufbauten, und sie erzählten Henri de Roslin jetzt mit bebenden Lippen davon. Wellen mit einem blendend weißen Kamm und leuchtenden Wasserfällen an der Frontseite; ein Plankenschiff, gleich, welcher Größe, das damit zusammenprallte, existierte zehn Herzschläge später nicht mehr. Die Männer hatten schon Stürme erlebt, die mit einem Stöhnen, als seien sie über sich selbst entsetzt, ganze Flotten in Stücke schlugen.

Auf Befehl des Kapitäns hatte die Besatzung schon am Vortag, als der Sturm sich ankündigte, alles von Deck geschafft, was nicht festgezurrt war. Die Taue um die Ladung im Unterdeck, dickleibige Fässer, Kästen, Jutesäcke und Lederbeutel, waren verstärkt worden, die Zurrringe in der Takelage angezogen. Jeder Matrose hatte freiwillig auf alles Überflüssige verzichtet und es über Bord geworfen. Die Karavelle musste leichter werden und tänzerischer mit den Fluten umgehen können. Im Proviantraum blieb nur das Nötigste. Halbleere Fässer mit Nahrung und Trinkwasser wurden umgefüllt, um neue Gefahren bei sich verändernden Gewichtsschwerpunkten zu vermeiden, geleerte Fässer gingen über Bord.

Henri de Roslin hatte eine solche Seereise noch nicht erlebt. Der Sturm bei der Überfahrt vor Wochen vom französischen Le Grail du Roi auf die Balearen war mit seemännischem Können beherrschbar gewesen. Und selbst die davor überwundenen Gefahren eines in Aufruhr befindlichen Frankreichs schienen ihm in der Erinnerung geringer gewesen zu sein. Jetzt zitterten selbst die Matrosen vor Angst. Sie arbeiteten mit wie gelähmt scheinenden Händen.

Wenn Henri de Roslin sich nicht daran erinnert hätte, warum er diese Fahrt über die tobende See auf sich nahm, wäre er genauso mutlos geworden. Aber er dachte an seine Gefährten, die buchstäblich die Steine des Kerkerturms von Fontainebleau erweicht hatten. Voller Liebe dachte er an Uthman ibn Umar, den sarazenischen Korangelehrten, der bereits vor Wochen nach Cordoba zurückgekehrt war. An Joshua ben Shimon, den jüdischen Mystiker, der ihn hoffentlich in Toledo erwartete. Und an die anderen, die ihn während der letzten schlimmen Monate begleitet hatten, seinen Knappen Sean of Ardchatten, der an Joshuas Seite geblieben war, die Tempelbrüder Gottfried von Wettin und Jacques de Charleroi.

Sie alle hatten ihn gedrängt, nach Toledo zu reisen. Dort, in der größten Stadt der iberischen Christenheit, würde er in die Geheimnisse der Kabbala eingeweiht werden, der neuesten, tiefsten und geheimnisvollsten jüdischen Kunst der Auslegung der Bibel. Denn Joshua ben Shimon behauptete, das Wort sei die Waffe, die Henri jetzt gegen seine Feinde brauche, die überall lauerten. Er war fest davon überzeugt, den Worten wohne eine verborgene, zwingende Schöpferkraft inne.