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ERSTER TEIL 

1. Prolog

Etwa gegen drei Uhr nachmittags jenes 29. September 1856 befand sich die Akademie der Wissenschaften zu Lyon mitten in einer ihrer Sitzungen – das heißt im schönsten Schlummer. Zur Entschuldigung der Herren Akademiemitglieder muß allerdings gesagt werden, daß sie seit dem Mittagessen einer gedrängten Zusammenfassung der Arbeiten des geschätzten Doktors Maurice Schwartz de Schwartzhausen ausgesetzt waren, der erschöpfend darüber referierte, daß Spinnen, die ein ausgiebiges Frühstück genossen haben, markantere Abdrücke ihrer linken hinteren Gliedmaßen im Sand hinterlassen als solche, die nicht den Genuß einer kalorienreichen Mahlzeit gehabt haben. Dabei hatte sich keiner der Schläfer der Müdigkeit kampflos überlassen. So hatte einer, bevor er die Ellenbogen auf den Tisch gestützt hatte und ihm der Kopf auf die Hände gesunken war, versucht, mit der Feder das Profil eines römischen Senators auf einen Block zu kritzeln, doch der Schlaf übermannte ihn, als seine gelehrte Hand gerade im Begriff war, die Falten der Toga zu skizzieren; ein anderer hatte aus einem weißen Blatt Papier ein Segelschiff gefaltet, und nun schien die sanfte Brise seines Schnarchens die Segel des Schiffes zu blähen. Allein der Akademiepräsident, den Rücken fest gegen die Lehne seines Stuhles gepreßt, schlief würdevoll und bewahrte, die Hand auf der Glocke, eine imposante Haltung.

Währenddes floß der Redestrom ununterbrochen, und der ehrenwerte Doktor Maurice Schwartz de Schwartzhausen verlor sich in unendlichen Betrachtungen über den Ursprung und die möglichen Konsequenzen seiner Entdeckung. Doch da schlug es drei Uhr, und jedermann erwachte. Der Präsident ergriff sogleich das Wort:

„Meine Herren“, sagte er, „die ersten fünfzehn Kapitel dieses herrlichen Manuskriptes, dessen Problem wir soeben mit soviel Aufmerksamkeit genossen haben, enthalten so neue und tiefgründige Erkenntnisse, daß die Akademie in Würdigung der genialen Leistung von Doktor Schwartz sich glücklich schätzen wird, so glaube ich, in der nächsten Woche der Lektüre der fünfzehn folgenden Kapitel folgen zu dürfen. Bis dahin wird jeder von uns genügend Zeit haben, über diesen einmaligen Forschungsgegenstand gründlicher nachzudenken und dem Autor, wenn angebracht, seine Fragen zu unterbreiten.“

Da Doktor Schwartz mit diesem Vorschlag einverstanden war, beeilte man sich, von etwas anderem zu sprechen.

Nun erhob sich ein kleiner Mann. Er hatte einen Bart, weißes Haar, lebhafte Augen, ein spitzes Kinn, und seine Knochen schienen nur mit Haut überzogen, so abgezehrt und mager war er. Er bat ums Wort, und augenblicklich schwiegen alle, denn er gehörte zu jener Sorte Menschen, denen man wachen Sinnes zuhört und die etwas zu sagen haben.

„Meine Herren“, begann er, „unser ehrenwerter und sehr zu bedauernder Kollege Monsieur Delaroche ist letzten Monat in Suez verstorben, als er im Begriff stand, sich nach Indien einzuschiffen, um im Ghatsgebirge an der Quelle des Godavari nach dem Gurukaramta zu suchen, dem wichtigsten heiligen Buch der Hindus, älter als die Vedaschrift, und das die Eingeborenen bisher vor den Europäern geheimhalten konnten. Dieser aufrechte Mann, dessen alle Freunde der Wissenschaft ewig in Ehrfurcht gedenken werden, hat angesichts seines Todes beschlossen, sein Werk nicht unvollendet zu lassen. Er will demjenigen einhunderttausend Franc zukommen lassen, der sich auf die Suche nach dieser wunderbaren Schrift macht, deren Existenz – will man Äußerungen der Brahmanen Glauben schenken – nicht länger angezweifelt werden kann. Durch sein Testament setzt er Ihre erlauchte Akademie als Vollstrecker seines letzten Willens ein und bittet Sie, einen geeigneten Wissenschaftler mit der Suche nach dem wertvollen Schriftstück zu beauftragen. Diese Wahl wird allerdings mehr als nur eine Schwierigkeit verursachen, denn der Reisende, den unsere Akademie nach Indien schicken will, muß robust sein, um dem Klima zu widerstehen, er muß couragiert sein, um den Zähnen der Tiger, dem Rüssel der Elefanten und den Fallen räuberischer Hindus zu entgehen; und er muß zu guter Letzt listig wie ein Fuchs sein, um den Argwohn der Engländer zu zerstreuen, denn die Königlich-Britisch-Asiatische Gesellschaft in Kalkutta hat bisher ebenfalls, wenn auch vergeblich, Nachforschungen angestellt, und sie dürfte kaum einem Franzosen die Ehre gönnen, das heilige Buch als erster entdeckt zu haben. Darüber hinaus muß dieser Mann Sanskrit, Parsi und alle lebenden und toten Sprachen Indiens beherrschen. Es ist also kein Kinderspiel, und ich schlage deshalb der Akademie vor, für diese Wahl einen Wettbewerb auszuschreiben.“

Was auch auf der Stelle geschah; danach konnte sich endlich jeder zu Tisch begeben.

Einige Zeit später stellten sich eine Unzahl von Bewerbern vor und wetteiferten um die Zustimmung der Akademie; aber der eine war von schwächlicher Konstitution, der andere wußte zuwenig, ein dritter konnte von den orientalischen Sprachen nur Chinesisch und Türkisch oder – man denke – Pidgin-Englisch. Kurz, es vergingen mehrere Monate, ohne daß die Akademie unter den sich vorstellenden Kandidaten eine Wahl hätte treffen können.

Schließlich, es war der 26. Mai 1857, die Akademie tagte wieder einmal vollzählig – was nicht heißen soll, daß sie wiederum schlief –, wurde dem Präsidenten die Karte eines Fremden überbracht, der wünschte, sofort empfangen zu werden.

Auf der Karte standen nur zwei Worte: Kapitän Corcoran. „Corcoran“, sagte der Präsident, „Corcoran? Kennt jemand diesen Namen?“

Natürlich kannte ihn niemand. Aber die gelehrten Herren, die neugierig wie alle gelehrten Herren waren, wollten den Fremden sehen. Und so öffnete sich binnen kurzem die Tür, und auf der Schwelle stand besagter Kapitän Corcoran.

Er war ein großer junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, der sich natürlich gab, ohne gezierte Bescheidenheit und Stolz. Sein Gesicht war hell und bartlos. In seinen meergrünen Augen spiegelten sich Freimut und Kühnheit. Bekleidet war er mit einem Umhang aus Kamelhaarwolle, einem roten Hemd und einer weißen Drillichhose. Die beiden Enden seiner auf Matrosenart gebundenen Schleife hingen leger auf seine Brust herab.

„Meine Herren“, sagte er schlicht, „ich habe gehört, daß Sie in Schwierigkeiten sind, und möchte Ihnen deshalb meine Dienste anbieten.“

„In Schwierigkeiten!“ unterbrach ihn der Präsident aufgebracht. „Sie irren, mein Herr! Die Akademie der Wissenschaften zu Lyon ist nie in Schwierigkeiten, jedenfalls nicht mehr als jede andere Akademie auch. Ich würde auch zu gern wissen, was eine wissenschaftliche Gesellschaft in Schwierigkeiten bringen sollte, die unter ihren Mitgliedern – wenn ich das als der Mann, der die Ehre hat, den Vorsitz zu führen, sagen darf – soviel hervorragende Genies, soviel edle Seelen und noble Charaktere…“

Hier wurde der Redner durch starken Beifall unterbrochen.

„Nun, wenn es so ist“, erwiderte Corcoran, „und Sie meine Dienste nicht brauchen, dann habe ich die Ehre, mich zu empfehlen.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt zur Tür.

„He, Monsieur, nicht gar so schnell! Sagen Sie uns wenigstens den Grund Ihres Besuches“, hielt ihn der Präsident zurück.

„Nun ja“, erwiderte Corcoran, „Sie suchen das Gurukaramta, nicht wahr?“

Der Präsident lächelte wohlwollend und ironisch zugleich.

„Und Sie, Monsieur“, sagte er, „wollen es finden?“

„Ja, ich.“

„Sie kennen die testamentarischen Bedingungen von Monsieur Delaroche, unserem klugen und bedauernswerten Kollegen?“

„Ich kenne sie.“

„Sie sprechen englisch?“

„Wie ein Professor aus Oxford.“

„Können Sie uns den Beweis liefern?“

„Yes, Sir“, antwortete Corcoran. „You are a stupid fellow. Möchten Sie weitere Beweise meiner Sprachkenntnis?“