„Ich bin bereit!“ rief Corcoran zurück. „Zum Kampf!“
Er hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, da mußte er schleunigst zurückspringen, um dem nun einsetzenden Kugelregen zu entgehen. Die Geschosse klatschten jedoch an die Mauer, ohne jemanden zu verletzen.
Da die Engländer vor Angst ihre Deckung nicht verließen und deshalb nicht genau zielen konnten, waren sie im Nachteil; Corcoran dagegen war gut geschützt und hatte Robarts genau vor dem Revolver. Er schoß, und der Schuß saß: Die Kugel riß dem Engländer ein Loch in seinen Korkhelm und versengte ihm eine seiner roten Strähnen. Robarts sprang rasch zurück und verbarg sich hinter dem nächsten Baum.
„Mein Freund!“ schrie ihm Corcoran zu, „man muß genau zielen, bevor man schießt, sagen Sie das Ihren Leuten; für heute gebe ich mich mit einem Treffer in Ihren Helm zufrieden.“
Plötzlich machte ein für die Engländer wiederum tragischer Vorfall dem Angriff ein Ende.
Einem der Engländer war es gelungen, sich von hinten an die Mauer heranzuschleichen, und er versuchte an ihr entlang im toten Winkel durch die Toröffnung, die von Corcoran nur unzureichend verbarrikadiert worden war, da er kein brauchbares Material hatte, ins Innere der Pagode zu dringen. Zweifellos hätte er dem Gefecht ein Ende bereitet, wenn es ihm gelungen wäre, den Bretonen von hinten niederzuschießen.
Glücklicherweise hatte Louison aufgepaßt. Hinter dem Torflügel versteckt, erwartete sie den Engländer. Mit zwei, drei Kolbenstößen hatte er die ungenügend befestigten Balken zertrümmert und war dabei, durch die Öffnung in die Pagode zu klettern, als ihn die Tigerin mit einem Schlag ihrer Pranke so energisch zurückwies, daß er seinen letzten Seufzer tat.
Dieser Anblick und der Geruch des Blutes versetzte Louison in einen Rausch, und sie hätte sich zweifellos todesmutig auf die englischen Linien gestürzt, wenn sie nicht ein Pfiff des Kapitäns wieder auf ihren Posten gerufen hätte.
Der Bretone begann unruhig zu werden. Lange würde er der Übermacht nicht mehr standhalten können. Keine Nachrichten von Holkar. Hatte Sugriva seine Aufgabe lösen können, oder war er unterwegs in einen Hinterhalt geraten? Zu allem Überdruß ging auch noch seine Munition zur Neige.
Immer wenn er sich am Fenster zeigte, feuerte man aus mindestens vierzig Karabinern auf ihn. Die Schüsse hatten den Zweck, einen Teil der Engländer zu decken, die wiederum mit dem Rammbock gegen das Tor vorgingen, das schon unter den Stößen ächzte und dessen Scharniere jeden Augenblick nachgeben mußten. Corcoran gelang es, indem er sich seitlich an die Fensteröffnung schmiegte, seinen Revolver gegen die auf das Tor Anrennenden leer zu schießen. Er spürte auch an den Schreien, daß seine Schüsse getroffen haben mußten, dennoch verbesserte sich seine Situation dadurch kaum, denn die Belagerer schienen in ihrem Bemühen nicht nachzulassen.
„Steigen Sie rasch die Treppe zum Turm empor!“ rief er Sita zu, „und haben Sie keine Angst.“
Sie gehorchte. Er folgte ihr augenblicklich. Louison bildete die Nachhut.
Es war höchste Zeit. Das Tor barst mit einem Schlag und krachte in das Innere der Pagode. Durch die Öffnung ergoß sich mit einemmal die ganze Schar der Angreifer.
Aber ihre Überraschung war groß, als sie Louison allein auf der Treppe entdeckten. Hinter ihr hörte man das trockene Schnappen von Corcorans Revolverhahn. Die Wendeltreppe war so dunkel, daß Corcoran vor den Blicken der Engländer verborgen blieb.
„Gottverdammich!“ schrie Robarts noch röter als ohnehin vor Zorn. „Das wird ja eine neue Belagerung. Ergeben Sie sich doch, Kapitän, jeder Widerstand ist zwecklos.“
„Das Wort ‘zwecklos’ gibt es im Französischen nicht!“
„Wenn wir Sie gewaltsam gefangennehmen müssen, werden Sie an die Wand gestellt und erschossen!“
„An die Wand gestellt und erschossen!“ echote der Bretone entrüstet zurück. „Wenn ich Sie gefangennehme, schneide ich Ihnen die Ohren ab!“
„Fertig zum Feuern!“ schrie Robarts. Die Soldaten schossen.
„Liebe Sita“, sagte Corcoran, „jetzt geht es um Sein oder Nichtsein. Steigen Sie, ich bitte Sie, bis zur Turmplattform hoch, die Kugeln könnten in die Mauer schlagen, zurückprallen und Sie verletzen.“
Er selbst folgte ihr mit Louison. Dank der verwinkelten Treppenkonstruktion waren sie zwar ein wenig vor den Kugeln geschützt und wenn es auf der schmalen Wendeltreppe, die nach oben zu dem Pagodenturm führte, wirklich zum Kampf Mann gegen Mann kommen sollte, waren er und Louison im Vorteil. Doch es war nur mehr ein Rückzugsgefecht, das wußte Corcoran, aus eigener Kraft konnten sie sich nicht mehr befreien.
Aber ein unerwarteter Vorfall änderte die Situation schlagartig.
Plötzlich erschien ein englischer Soldat, der im Freien geblieben war, in der Pagode und schrie: „Der Feind rückt an!“
„Was für ein Feind?“ schrie Robarts zurück. „Das wird Colonel Barclay sein, der mit der Armee auf dem Weg nach Bhagavapur ist.“
„Das ist Holkar, das sieht man an den Fahnen.“
Tatsächlich hörte man den schweren Galopp anrückender Kavallerie.
Zum Teufel noch mal, dachte Robarts. Zehntausend Pfund für die Katz. Nicht gerechnet, was uns von Seiten Holkars noch alles bevorsteht. Und laut schrie er: „Raus hier! Auf die Pferde!“
Was er seiner Truppe natürlich nicht zweimal zu sagen brauchte.
„Und jetzt den Säbel in die Faust und drauf auf die Canaille! Vorwärts für unser gutes altes England!“
14. Wie der Belagerte zum Belagerer wird
Obwohl die beiden feindlichen Truppenkontingente von der Zahl her unterschiedlich groß waren, standen die Chancen für den Ausgang des Kampfes dennoch auf gleich.
Abgesehen von der Tatsache, daß sich die englische Kavallerie nur aus Europäern zusammensetzte, die im Kampf mit dem Säbel Holkars Reiterei weit überlegen waren, gab das Gelände Holkar keine Möglichkeit, die Engländer einzukreisen und aus seinem zahlenmäßigen Übergewicht einen Vorteil zu ziehen.
Die Pagode befand sich auf einer kleinen Anhöhe inmitten dichten Dschungelgrases, das erheblich höher war als ein Mann von gewöhnlicher Größe und durch das hindurchzureiten für einen Kavalleristen schier unmöglich war. Drei Pfade, die sich quer durch den Dschungel zogen, endeten auf dieser Anhöhe, und diese recht schmalen Wege waren sehr leicht zu verteidigen. Einmal in diesen „Hohlwegen“ gebunden, sah sich Holkars Kavallerie den Engländern von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und der Ausgang des Kampfes hing mehr von der persönlichen Tapferkeit jedes einzelnen als von der Zahl der Kämpfer ab.
Holkar schäumte vor Wut, als er sah, welche Hindernisse ihm das Gelände bereitete. Darüber hinaus war der erste Aufeinanderprall der beiden Reitertrupps nicht dazu angetan, ihn zuversichtlich zu stimmen. Die Inder hielten zwar dem ersten Anprall stand, als sie aber die Engländer im gestreckten Galopp, den blanken Säbel in der Faust und weit über den Kopf des Pferdes vorgebeugt, heranstürmen sahen – John Robarts an der Spitze –, konnte sie nichts mehr an der Flucht hindern.
Sie machten auf der Stelle kehrt und strömten auf dem breiten Weg zurück, der nach Bhagavapur führte und auf dem sie gekommen waren. Erst dort gelang es Holkar und einigen seiner beherzten Offiziere, sie aufzuhalten und, indem man ihnen die zahlenmäßige Unterlegenheit des Feindes vorhielt, ihnen Vertrauen und Mut zurückzugeben.
John Robarts wurde von seiner eigenen Kühnheit mitgerissen und wollte seinen Vorstoß noch weiter fortsetzen, denn er glaubte, Holkar im Handstreich vernichten zu können; als er jedoch auf den breiten Weg nach Bhagavapur einschwenkte, der nach kurzer Zeit in eine große Lichtung einmündete, auf der Holkar seine zahlenmäßige Überlegenheit voll ausspielen und Robarts’ Männer mühelos hätte einkreisen können, änderte er seine Taktik und kehrte mit seiner Truppe im Trab an den Rand der Lichtung zurück.