„Lieber Freund“, meinte Holkar niedergeschlagen, „es ist alles verloren. Die Bresche ist mindestens fünfzehn Schritt breit, und sie werden uns heute nacht oder morgen früh angreifen. Was sollen wir tun?“
„Säbel und Kanonenrohr!“ erwiderte Corcoran, „ich sehe nur drei Möglichkeiten – oder die Kapitulation.“ Holkar machte eine Geste des Entsetzens.
„Sehr gut!“ fuhr der Bretone fort. „Ihr wollt um keinen Preis Gefangener der Engländer werden… Und trotzdem, Fürst Holkar, die Ostindische Kompanie setzt sich aus Philanthropen zusammen, die sich glücklich schätzen würden, Euch eine Pension zukommen zu lassen, um sich Eurer zu versichern – drei- oder viertausend Franc Rente zum Beispiel…“
„Ich würde es vorziehen zu sterben“, sagte Holkar.
„Ihr habt recht, dieser erste Vorschlag taugt nichts. Der zweite wäre: Ihr besteigt mit Sita meine Brigg, nehmt Eure Diamanten, Euer Gold und alles, was Euch wert und teuer ist, mit an Bord. Nachts würden wir den Fluß hinabsegeln, den Indischen Ozean überqueren; bevor die Engländer überhaupt merken, daß Ihr ihnen entwischt seid, in Ägypten an Land gehen und uns doucement in Alexandria auf dem Dampfschiff Oxus einschiffen, dessen Kapitän mein Freund Antoine Kerhoël ist und das zwischen Alexandria und Marseille verkehrt.“
„Reisen Sie mit Sita ab“, unterbrach ihn Holkar. „Kapitän, ich vertraue Ihnen meine Tochter an, für mich ist sie das Teuerste auf der Welt… Ich bleibe… Der letzte der Raghuiden muß unter den Ruinen seiner Hauptstadt begraben sein. Ich werde mit der Waffe in der Hand sterben wie Tipu Sahib, aber ich werde nicht fliehen…“
„Ich habe nichts anderes erwartet!“ rief Corcoran erfreut. „Also bleiben wir und bereiten diesen Halsabschneidern von Engländern einen solchen Empfang, daß keiner mehr nach London zurückkehren kann, um seine Erlebnisse beim Fünfuhrtee zum besten zu geben… Aber um uns nicht unnötig aufzuregen, wäre es besser, Sita auf meiner Brigg unterzubringen. Ali wird sie begleiten. Falls uns etwas widerfahren sollte, ist sie wenigstens bei meinen Seeleuten in Sicherheit.“
„Kapitän“, erwiderte Sita bewegt, „glauben Sie wirklich, daß ich ohne meinen Vater leben kann, ohne ihn und…“
Sie hatte hinzufügen wollen: und ohne Sie; aber sie sagte nur: „Entweder wir sterben, oder wir siegen zusammen.“
Da wurde ihnen plötzlich ein Sepoy gemeldet, der den Kapitän sprechen wollte. Ali führte ihn herein.
„Wer bist du?“ fragte ihn der Bretone. „Wie heißt du?“
„Berar.“
„Wer schickt dich?“
„Sugriva.“
„Der Beweis.“
„Seht diesen Ring.“
„Und was sagt Sugriva?“
„Er schickt diesen Brief.“ Corcoran öffnete den Brief und las folgendes:
„Sahib Kapitän, Berar, der Ihnen diesen Brief überbringen wird, ist ein verläßlicher Freund, er verabscheut die Engländer genauso wie Sie selbst. Morgen früh um fünf Uhr wird man das Signal zum Sturm geben. Ich habe gehört, wie sich Colonel Barclay und Leutnant Robarts darüber unterhielten. Keiner ahnte, daß ich sie belauschte. Es sind Nachrichten aus Bengalen eingetroffen. Die Sepoygarnison in Meerut hat gemeutert und die europäischen Offiziere erschossen. Von dort sind die Aufständischen nach Delhi marschiert, wo man den letzten Großmogul als Herrscher des islamischen Indien ausgerufen hat. Fünfhundert bis sechshundert Engländer hat man umgebracht. Diese Neuigkeiten haben Barclay bewegen, alles zu riskieren, um den Angriff erfolgreich abzuschließen. Der Gouverneur von Bombay hat ihn gebeten, mit Holkar abzurechnen und so schnell wie möglich nach Bombay zurückzukehren. Wenn es morgen nicht gelingt, die Stadt einzunehmen, wird sich Barclay zurückziehen. Das ist beschlossene Sache. Ich bin nicht untätig geblieben. Ich habe die Depesche von Barclays Tisch an mich genommen und sie einem halben Dutzend meiner Sepoyfreunde zu lesen gegeben, die die Neuigkeit sofort im Lager verbreitet haben. Sie werden den Effekt morgen sicher spüren. Ich bedaure, nicht mit Ihnen bei der Bresche kämpfen zu können, aber ich werde Ihnen im englischen Lager nützlicher sein. Seien Sie guten Mutes und vertrauen Sie Brahma.“
Der erstaunte Corcoran betrachtete den Überbringer der Botschaft.
„Wie hast du denn die englischen Linien durchqueren können?“ fragte er ihn mit einigem Mißtrauen in der Stimme.
„Was weiß ich, Hauptsache, ich bin hier.“
„Welchen Grund hast du denn, die Engländer zu hintergehen. Bezahlen Sie dich schlecht?“
„Im Gegenteil, sehr gut sogar.“
„Hungerst du?“
„Ich bereite mir meine Speisen selbst, kaufe mir auch den Reis selbst, damit ihn keine unreine Hand berührt.“
„Wirst du schlecht behandelt? Hat man sich irgendeine Ungerechtigkeit dir gegenüber zuschulden kommen lassen?“
Der Sepoy öffnete sein Hemd. Auf der Brust sah man schreckliche Narben.
„Ich verstehe“, sagte Corcoran. „Das ist das Zeichen der neunschwänzigen Katze. Du hast also die Peitsche zu spüren bekommen?“
„Fünfzig Schläge“, erwiderte der Sepoy. „Beim fünfundzwanzigsten bin ich ohnmächtig geworden, aber man hat weiter auf mich eingeschlagen. Dann lag ich drei Monate im Spital. Erst vor fünf Wochen hat man mich entlassen.“
„Wer hat dir denn die Peitsche verabreicht?“ fragte der Kapitän.
„Leutnant Robarts… Er hat es nicht selbst getan, doch den Befehl dazu gab er. Dafür wird er noch büßen. Sugriva und ich lassen ihn keine Sekunde aus den Augen.“
Ein gutbewachter Offizier, dachte Corcoran, laut fragte er:
„Was macht eigentlich Sugriva im Lager? Ist er freigelassen worden?“
„Sugriva“, sagte der Sepoy, „ist ihnen durch die Finger geglitten wie eine Kobra. Robarts wollte ihn zunächst hängen lassen. Doch ehe der Kriegsrat zusammengetreten war, ist Sugriva zusammen mit seinem Wächter geflohen. Sie können sich Leutnant Robarts’ Wut vorstellen. Er wollte alle Sepoys erschießen lassen. Am selben Abend ist Sugriva als Fakir verkleidet wieder ins Lager gekommen und bei den Sepoys untergetaucht. Keiner wird ihn den Engländern ausliefern; und wenn er durch einen dummen Zufall den Engländern doch in die Hände fallen sollte, würden sich die Sepoys erheben.“
„Das hört sich ja alles bestens an“, meinte Corcoran. „Ich danke dir. Kehre wohlbehalten zurück und richte Sugriva aus, daß wir am Morgen bereit sein werden. Seine Hilfe ist für uns von unschätzbarem Wert.“
In der Dunkelheit konnte er gerade noch einen Schatten erkennen, der durch die von den Engländern in die Mauer geschossene Bresche glitt; das mußte der Sepoy Berar sein, der ins englische Lager zurückkehrte. Er machte dem Sepoysoldaten, der die Sappe bewachte, ein bestimmtes Zeichen und war dann endgültig in der Dunkelheit verschwunden.
Man muß wirklich sagen, dachte Corcoran, daß Colonel Barclay Soldaten hat, die ihr Geld wert sind.
17. Die Schicksalsstunde Leutnant Robarts’ von den einundzwanziger Husaren
Der übrige Teil der Nacht verlief ruhig und wurde von keinem Alarm mehr unterbrochen. Beide Seiten bereiteten sich schweigsam auf den kommenden Sturm vor. Dabei lagen die Vorposten der beiden Parteien so dicht beieinander, daß sie sich ohne weiteres hätten unterhalten können. Scheinbar war alles ruhig. Aber eben nur scheinbar, denn wenn man genau hingehört hätte, dann wäre einem ein Schatten aufgefallen, der zwischen den Sepoys hindurchglitt und flüsternd Befehle weitergab, die nicht für die Ohren der Europäer bestimmt waren. Sugriva war es, der durch die Dunkelheit schlich und überall seine geheimnisvollen Anordnungen gab, die den Kampf entscheiden sollten.