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Endlich wurde es Tag. Ein Kanonenschuß gab – pünktlich um fünf – das Signal zum Angriff, und eine erste Kolonne englischer Infanterie stürmte mit aufgepflanztem Bajonett durch die Sappe auf die Bresche los.

Im selben Augenblick wurden sie jedoch von einem schrecklichen Feuer von vorn und von der Seite empfangen; fünf oder sechs mit Kartätschen bestückte Kanonen rissen ein gewaltiges Loch in ihre Reihen; zudem explodierten unter ihren Füßen am Ende der Sappe von Corcorans Soldaten heimlich gelegte Sprengladungen. Die Hälfte der Kolonne war in Sekundenschnelle vernichtet. Die anderen gaben den Angriff auf und zogen sich in die Sappe zurück.

Dieser Anblick ließ Corcoran, der die Verteidigung an der Bresche befehligte, frohlocken und Holkars Soldaten, die bei diesem ersten Ansturm keinen einzigen Mann verloren hatten, Zuversicht in ihre eigene Stärke bekommen.

Der Kapitän stand gefaßt und lächelnd, als befände er sich auf einem Ball, neben der Bresche. Er hatte auf alles ein Auge und erwartete, ohne sich von dem Erfolg des ersten Angriffs blenden zu lassen, die zweite Attacke. Neben ihm hielt sich der alte Holkar, der voller Begeisterung war. Hinter ihnen spazierte selbstbewußt Louison. Ihre Intelligenz, die sie die Wünsche ihres Herrn meist schon ahnen ließ, nötigte Holkars Soldaten großen Respekt vor der Intuition des Tieres ab.

Seit einer Viertelstunde war es ruhig geworden. „Sollten sie schon den Rückzug angetreten haben?“ wunderte sich Holkar.

„Nein“, erwiderte Corcoran, „das glaube ich nicht. Aber diese Ruhe gefällt mir gar nicht. Louison!“

Bei diesem Ruf spitzte die Tigerin die Ohren, als ob sie den Befehl des Kapitäns so besser hören könnte.

„Louison, meine Liebe, es handelt sich darum, zu erfahren, was der Feind vorhat“, sagte Corcoran. „Du weißt ja ebensowenig wie ich, was sich in der Sappe tut. Also hol uns Informationen, du verstehst schon… Du läufst in die Sappe, nimmst dir den erstbesten Engländer – einen Offizier, wenn möglich –, der dir über den Weg läuft, zwischen die Zähne und bringst ihn, ohne ihm ein Härchen zu krümmen, hierher zu mir! Und sei vor allem vorsichtig und behutsam!“

Diese Rede war von sehr deutlichen Gesten begleitet, und Louison senkte nach jedem Satz den Kopf, um zu zeigen, daß sie verstanden habe. Dann flitzte sie los, übersprang die Bresche und war mit einem zweiten Satz schon in dem Graben, wo sich die Engländer gerade zu einem neuerlichen Angriff fertigmachten.

Der erste, auf den sie traf, war ein Leutnant vom 25. Linienregiment. Es war der brave James Stephens aus Cartridge House in der Grafschaft Durham. Mit einem leichten Schlag ihrer Pfoten stupste sie ihn zu Boden. Dann packte sie ihn mit ihren Zähnen am feinen roten reißfesten englischen Tuch und nahm wieder den Weg, den sie gekommen war.

Louisons Auftauchen geschah so unerwartet und plötzlich, daß niemand Zeit gefunden hatte, sich ihr zu widersetzen oder sie wenigstens aufzuhalten. Die Tigerin durchquerte die Bresche ein zweites Mal, diesmal jedoch von der entgegengesetzten Seite, und legte ihr „Wild“ zu Corcorans Füßen nieder. Dabei betrachtete sie ihn mit einem verschmitzten Blick, der bedeuten mochte: Na, verehrter Herr und Meister, habe ich das nicht wieder fabelhaft gemacht?

Unglücklicherweise hatte Louison, die sehr in Eile war und in Sorge, ihre kostbare Beute unterwegs fallen zu lassen, den armen Leutnant ein bißchen zu sehr gedrückt, so daß ihre Zähne in die Lunge des jungen Mannes gedrungen waren und James Stephens aus Cartridge House in dem Moment, da ihn Louison niederlegte, ein toter Mann war.

„Armer Junge“, meinte Corcoran. „Louison ist eben nicht sehr bewandert in Anatomie. Sie hat ihn zu sehr gedrückt… Louison, meine Liebe, du hast einen großen Fehler gemacht. Du hast diesen Engländer wie ein englisch gebratenes Steak behandelt, das ist ein großer Unterschied, wie dir jeder Feinschmecker bestätigen wird; Engländer sind stets als Gentleman zu behandeln und lebend herbeizuschaffen… Also, spring noch einmal und faß diesmal bitte etwas sanfter zu.“

Die Tigerin verstand den Vorwurf nur zu gut und lief gesenkten Hauptes davon, um ihre Scharte wettzumachen.

Diesmal hatte sie ihren Gentleman so sanft angepackt und kaum mit ihren Zähnen berührt, daß sie ihn zweifellos Corcoran ohne jede Verletzung übergeben haben würde, wenn die Engländer nicht die törichte Idee gehabt hätten, Louison unter starken Beschuß zu nehmen. Eine der Tigerin zugedachte Kugel drang zwei Zoll tief in das Gehirn des Gentleman und machte seinem Leben und seiner Angst, von einem Tiger gefressen zu werden – wenn er diese Angst gespürt hat, was ich nicht weiß – ein Ende.

Nach diesem zweiten Versuch sah Corcoran ein, daß es unmöglich war, auf diese Art präzise Informationen über das Vorgehen des Feindes zu erhalten. Doch da ließ sich plötzlich von einer anderen Seite der Stadtmauer, die weniger stark bewacht war, ein entsetzliches Geschrei vernehmen. Etwa zweihundert Engländer waren auf Leitern über die Mauer gestiegen und ergossen sich nun in die Stadt. Schon sah man einige Soldaten vor dem neuen Feind fliehen und die Waffen wegwerfen. „Fürst Holkar“, sagte Corcoran, „bleibt Ihr an der Bresche. Ich will sehen, was ich dort machen kann. Laßt keinen durch. Wenn die Engländer hier eindringen, ist alles verloren, und uns wird nichts weiter übrigbleiben, als ehrenvoll zu sterben.“

Dann marschierte er mit einem Bataillon, das bisher an der Bresche gestanden hatte, gegen die Engländer, die über die Mauer geklettert waren.

Seine erste Maßnahme war, die Leitern, auf denen die Engländer die Mauern bestiegen hatten, hochzuziehen, damit von unten keine Verstärkung mehr nachrücken konnte. Dann ließ er eine Straße, in die sie bereits eingedrungen waren, verbarrikadieren, und machte sie so zu einer Sackgasse. Zum Glück war die Straße nicht sehr verwinkelt, und die Arbeit war in kurzer Zeit erledigt. Dann begann er den Feind von verschiedenen Seiten in dieser Straße unter Feuer zu nehmen. Die Engländer wichen zurück, aber der Ausgang war ihnen durch die Barrikade versperrt. Corcoran hatte drei Kanonen herbeigeschafft und forderte die Engländer auf, sich zu ergeben.

Doch der Feind wollte den Durchbruch mit aufgepflanztem Bajonett erzwingen. Corcoran ließ mit Kartätschen auf ihn schießen. In einem einzigen Augenblick war die Straße mit Toten und Verletzten übersäht.

Während man die Kanonen von neuem lud, forderte Corcoran die Engländer zum zweiten Mal auf, sich zu ergeben. Diesmal kamen sie seiner Aufforderung nach. Vierundzwanzig Engländer waren von den zweihundert, die in Bhagavapur hatten eindringen können, noch übriggeblieben.

Aber Corcoran hatte keine Zeit, sich über seinen Triumph zu freuen. Ein großer Tumult und Schmerzensschreie ließen ihn eine neue Katastrophe befürchten. Er hastete zu der Bresche. Unterwegs begegneten ihm flüchtende Soldaten. „Halt!“ rief Corcoran. „Wo lauft ihr denn hin?“

„Sahib Kapitän“, schrie ihm einer der Fliehenden zu, „Holkar ist tot. Die Engländer haben die Bresche erstürmt. Rette sich, wer kann!“

„Rette sich, wer kann!“ schrie ihn Corcoran an. „Du kannst es jedenfalls nicht! Dreh dein Gesicht augenblicklich zum Feind, oder ich blase dir das bißchen Verstand aus deinem Gehirn. Dir und all diesen Feiglingen ebenso!“

Bei dieser Drohung wandte sich der unglückliche Hindu wieder der Bresche zu, denn diese Gefahr schien ihm geringer, als dem Zorn des Bretonen standzuhalten. Die anderen folgten seinem Beispiel. Mehr aus Angst als aus anderen Gefühlen heraus gehorchten sie dem Kapitän.