Im übrigen war die Neuigkeit nur allzu wahr. Eine feindliche Kolonne aus Engländern und Sepoys hatte einen neuen Angriff begonnen, und obwohl Holkar mit dem Mut der Verzweiflung gekämpft hatte, war an diesem Tag das Glück nicht auf seiner Seite. Vor vierzehn Tagen war er schon einmal verwundet worden, diesmal war ihm eine Kugel in die Brust gedrungen. Als er fiel, gelang es den Engländern, die Hindutruppe zurückzudrängen. Schon waren die ersten in die Häuser der Vororte eingedrungen und hatten sie in Brand gesteckt.
Holkar fühlte den Tod nahen. Man hatte ihn auf einen kleinen Teppich gebettet, wo er von einer Schar seiner treuesten Soldaten umgeben war. Ein indischer Arzt untersuchte seine Wunde.
„Ach, mein Freund“, flüsterte er, als er Corcoran kommen sah, „Bhagavapur ist verloren. Retten Sie Sita!“
„Noch ist nichts verloren!“ antwortete Corcoran. „Sie werden leben, und was noch besser ist, Sie werden auch siegen. Nur Mut, Holkar, der Tag gehört uns.“
Nach diesen Worten sammelte er die versprengten Hindus um sich, und mit allen Kräften gelang es ihnen, die Bresche wieder zu schließen und dadurch die Verbindung zwischen dem englischen Lager und der Kolonne, die in Bhagavapur eingedrungen war, zu unterbrechen. Während er alle entbehrlichen Truppenteile in die Stadt schickte, um dort gegen die Engländer vorzugehen, blieb er selbst an der Bresche, denn er schätzte, daß die zurückflutenden Engländer sicher versuchen würden, den Rückweg über die Bresche zu nehmen.
Er hatte sich nicht geirrt. Die Engländer merkten plötzlich, daß ihrer immer weniger wurden und sie in der Stadt eingeschlossen waren. Sie hatten Angst, gefangengenommen zu werden, und fluteten zurück. Die Hindus leisteten ihnen dabei keinen Widerstand, sobald sie merkten, daß sich die Engländer zur Bresche zurückzogen. Und an der Bresche erwartete sie Corcoran.
In diesem Augenblick geschah ein unerwartetes Ereignis, das den Kampf endgültig zu Corcorans Gunsten entschied.
Über dem englischen Lager sah man plötzlich eine gewaltige Rauchsäule emporsteigen. Danach hörte man Gewehrfeuer. Unter Sugrivas Führung hatten die Sepoys Feuer an die Zelte gelegt, Colonel Barclay hinterrücks angegriffen, auf die eigenen Offiziere geschossen, die Kanonen vernagelt, die Munition in die Luft gejagt und das ganze Lager in ein heilloses Durcheinander gestürzt.
Corcoran hielt den Moment für gekommen. An der Spitze von drei Reiterregimentern machte er einen Ausbruch. Ohne Uniform, ganz in Weiß gekleidet, wie es seine Gewohnheit war, preschte er mit dem blanken Säbel in der Hand los, um den Feind endgültig zu besiegen.
Colonel Barclay war ein alter Haudegen, den man zwar überraschen, nicht aber erschüttern konnte. Ohne sich weiter um den Verrat der Sepoys zu kümmern, versammelte er die beiden europäischen Regimenter um sich und befahl, sich geordnet zurückzuziehen. Er kommandierte selbst die Kavallerie, die den Rückzug deckte. Seine unerschütterliche und ruhige Haltung nötigte den Hindus allen Respekt, manchen von ihnen sogar abergläubische Furcht ab.
Corcoran war in Sorge, daß sich das Kriegsglück wieder wenden könne. Ihm war es nicht darum gegangen, die Engländer zu vernichten, sondern Bhagavapur zu retten. Deshalb begnügte er sich damit, die Engländer eine halbe Stunde zu verfolgen. Dann kehrte er nach Bhagavapur zurück, während er die Bewegungen des geschlagenen Feindes von Holkars Kundschaftern beobachten ließ.
In der Stadt erwartete ihn der sterbende Holkar. An seiner Seite befand sich die schöne Sita, die den Kopf ihres Vaters auf den Knien hielt.
„Gibt es keine Hoffnung mehr, Sita?“ fragte sie der Kapitän flüsternd.
Holkar hatte die Frage mehr geahnt als gehört. „Nein, mein lieber Freund“, sagte er. „Ich werde sterben. Der letzte der Raghuiden ist im Kampf gefallen wie alle seine Vorfahren, und ich habe nicht mehr miterleben müssen, daß der Feind siegreich in meinen Palast zieht. Aber mein Mädchen, meine liebe Tochter…“
„Vater“, erwiderte Sita, „beruhige dich. Brahma wacht über all seine Geschöpfe.“
„Mein Sohn“, fuhr der sterbende Greis fort und tastete nach Corcorans Hand, „ich lege Sitas Wohl in deine Hände. Du allein kannst sie verteidigen und beschützen. Du allein wirst es vielleicht auch wollen… Sei ihr Gatte, Beschützer und Vater. Sie liebt dich, ich weiß es, und du…“
Corcoran konnte nur stumm und ergriffen die Hand des Sterbenden drücken, aber seine Augen gaben Sita deutlich zu verstehen, daß auch er sie liebte.
Holkar ließ die ranghöchsten Offiziere seiner Armee herbeirufen.
„Hier ist mein Nachfolger“, sagte er, „mein adoptierter Sohn und der Ehemann Sitas. Ich hinterlasse ihm mein Reich, und ich befehle euch, ihm genauso zu gehorchen, wie ihr mir gehorcht habt.“
Gegen Abend schloß Holkar für immer die Augen, nachdem er noch die Vermählungszeremonie gemäß den Riten Brahmas an Corcoran und Sita vollzogen hatte. Der Kapitän wurde zum Maharadscha der Marathen ausgerufen. Am nächsten Tag machte er sich mit Sugriva an die Verfolgung der Engländer, während er es Holkars Tochter überließ, die letzten Pflichten an ihrem Vater vorzunehmen.
Auf dem Weg, den die englische Armee gezogen war, sah man Pferde- und Menschenleichen. Die in den Dschungel geflüchteten meuternden Sepoys hatten versprengte Truppen aus dem Hinterhalt beschossen und alle Nachzügler umgebracht. Plötzlich entdeckte Corcoran an einer Wegbiegung von weitem ein seltsames Gebilde, das einem Gehängten ähnlich sah. Als er sich näherte, erkannte er, daß der Gehängte eine rote Uniform und Epauletten trug. Noch näher heranreitend, sah er, daß es Mister John Robarts, Husarenleutnant Ihrer Majestät, Königin Victorias, war. Er drehte sich zu Sugriva um, der neben ihm ritt, und sagte:
„Mein lieber Sugriva, das Schicksal enthält dir deine Beute vor. John Robarts wurde gehängt.“ Sugriva lächelte.
„Wissen Sie, wer ihn gehängt hat?“
„Vielleicht du?“
„Ja, Sahib Kapitän.“
„Hm“, meinte Corcoran. „War es nötig, ihn zu töten? Du bist ein bißchen zu rachsüchtig, lieber Freund.“
„Ah“, entgegnete der Hindu, „wenn ich Zeit gehabt hätte, sein Leiden zu verlängern! Aber Berar und ich waren in Eile. Wir sind ihm die ganze Nacht Schritt für Schritt bis hierher gefolgt. Berar hat sein Pferd mit einem Schuß getötet. Robarts fiel zu Boden, wir haben ihn mühelos binden können, er hatte sich das Bein gebrochen. Er hat mit seinem Revolver auf uns geschossen, allerdings niemanden getroffen. Wir haben ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, und Berar hat ihm, nachdem er ihm die Uniformjacke ausgezogen hatte, fünfzig Peitschenhiebe verpaßt, genausoviel und keinen mehr oder weniger, wie er damals auf Befehl dieses ehrenwerten Gentleman erhalten hat.“
„Teufel auch!“ sagte Corcoran. „Ihr habt vielleicht ein Gedächtnis. Und was hat dieser – wie du ihn nanntest – Gentleman dazu gesagt?“
„Nichts. Er rollte nur wild mit den Augen. Wenn er gekonnt hätte, würde er uns damit alle verschlungen haben; den Mund hat er nicht aufgemacht.“
„Und danach, was geschah dann?“
„Berar hat ihn ausgepeitscht, an mir war es, ihn zu hängen. Ich habe ihm mit Berars Hilfe die Schlinge um den Hals gelegt und dann den Strick am Baum hochgezogen. Schließlich war er tot, und ich bin nach Bhagavapur zurückgekehrt.“
„Beim allmächtigen Gott“, sagte Corcoran, der ja bekanntlich ein philosophischer Mensch war, nachdenklich, „es steht geschrieben: ‘Wer sich des Schwertes bedient, wird durch das Schwert umkommen.’ Dieser arme Robarts tut mir leid, doch er war ein schlechter Charakter. Er war zu ehrgeizig, und das schadet immer. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich wohl schon ein Loch im Kopf. Beerdigen wir ihn, wie es einem Christenmenschen geziemt, und verlieren wir kein Wort mehr darüber.“