„Meine Herren“, sagte der Präsident, „ich fordere Sie auf, sich wieder zu setzen. Wenn die Tür verschlossen und verbarrikadiert ist, so ohne Zweifel deshalb, weil der Portier Hilfe herbeiholt. Wappnen wir uns mit Geduld und warten ab, und wenn Sie wollen, können wir auf der Stelle die schöne Arbeit unseres gelehrten Kollegen Monsieur Crochet über den Ursprung und die Wortbildung der Mandschusprache prüfen.“
„Ich glaube“, fiel der ständige Sekretär ein, „daß die ehrenwerte Versammlung sich momentan nicht der Ruhe erfreut, die für wissenschaftliche Untersuchungen förderlich ist, so daß es angemessen wäre, wenn wir die Mandschuangelegenheit auf einen anderen Tag verschieben. Aber wenn es dem Kapitän recht ist, könnte er sich für die Aufregung revanchieren und uns erzählen, weshalb wir uns heute Mademoiselle Louison gegenübersehen…“
„Ja“, unterstützte ihn der Präsident, „Kapitän, erzählen Sie uns Ihre Abenteuer, vor allem die Geschichte Ihrer wilden Begleiterin.“
Corcoran verbeugte sich ehrerbietig und begann seine Schilderung.
3. Von einem Tiger, einem Krokodil und dem Kapitän Corcoran
„Vielleicht haben Sie, meine Herren, schon einmal etwas von dem berühmten Robert Surcouf aus Saint-Malo gehört. Sein Vater war der leibliche Neffe des Schwagers meines Urgroßvaters. Der berühmte und kluge Yves Quaterquem, heute Mitglied des Institut de Paris, der, wie jeder weiß, die Methode entdeckt hat, Luftschiffe fliegen zu lassen, ist mein Cousin. Mein Großonkel Alain Corcoran, Spitzname ‘Rotbart’, hatte die Ehre, mit dem verstorbenen Vicomte Francois de Chateaubriand, dem berühmten Autor der Atala, dasselbe College zu besuchen und ihm am 23. Juni 1782 während der Pause zwischen halb fünf und fünf Uhr nachmittags seine geballte Faust aufs Auge zu setzen. Sie sehen, meine Herren, ich stamme aus gutem Hause; wir Corcorans können die Stirn hoch tragen und geradewegs in die Sonne blicken.
Über mich gibt es wenig zu erzählen. Ich bin mit der Angel in der Hand geboren worden. In dem Alter, in dem andere Kinder mehr schlecht als recht das Alphabet lernen, bin ich schon mit dem Boot meines Vaters hinausgefahren; und als mein Vater umkam, als er einem in Seenot geratenen Fischkutter zu Hilfe eilen wollte, schiffte ich mich auf dem Schoner Keusche Susanne ein, einem Walfänger aus Saint-Malo, der in der Beringstraße fischte; nach dreijähriger Kreuzfahrt zwischen Nord- und Südpol wechselte ich von der Keuschen Susanne zur Schönen Emilie, von der Schönen Emilie auf den Stolzen Artaban und vom Stolzen Artaban auf den Sturmsohn, eine Brigg, die mit aller verfügbaren Leinwand ihre neunzehn Knoten in der Stunde macht.“
„Monsieur“, unterbrach ihn der ständige Sekretär der Akademie, „Sie hatten uns die Geschichte von Louison versprochen.“
„Nur Geduld“, erwiderte Corcoran, „hier ist sie.“ Aber ein entfernter Trommelwirbel schnitt ihm das Wort ab.
„Was ist denn da nun schon wieder los?“ fuhr der Präsident beunruhigt auf.
„Ich ahne es“, entgegnete Corcoran. „Das wird der verschreckte Portier sein, der die Tür verbarrikadiert hat und bei dem nächstbesten Militärposten um Hilfe gebeten haben wird.“
„Mein Gott“, sagte ein Akademiemitglied, „es wäre besser gewesen, die Tür offenzulassen. Ich jedenfalls werde meine Zeit nicht damit vertun, mir die Geschichte von Louison anzuhören.“
„Achtung!“ rief der Kapitän. „Jetzt wird es ernst. Man läutet zum Angriff.“
Tatsächlich erscholl von dem nächstgelegenen Glockenturm ein aufgeregtes Bimmeln und setzte sich in Windeseile bei allen anderen Türmen der Stadt fort.
„Bomben und Kanonen!“ fluchte der Kapitän lachend. „Die Sache wird ernst; meine arme Louison, ich fürchte, man wird dich belagern wie eine Festung…
Aber um auf meine Geschichte zurückzukommen, meine Herren, es war gegen Ende des Jahres 1853, ich hatte in Saint-Nazaire den Sturmsohn bauen lassen und stand im Begriff, im Hafen von Batavia sieben- oder achthundert Fässer Bordeauxwein zu entladen. Das Geschäft ging gut, ich war zufrieden, zufrieden mit mir, meinem Nächsten, der göttlichen Vorsehung und dem Zustand meiner Geschäfte; deshalb entschloß ich mich eines Tages zu einer Zerstreuung, die man auf dem Meer nicht allzuoft hat: der Tigerjagd.
Sie wissen sicher, meine Herren, daß der Tiger – übrigens das schönste Tier der Schöpfung, nehmen Sie nur Louison – vom Himmel leider mit einem außergewöhnlichen Appetit gesegnet wurde. Er frißt gern Rind, Flußpferd, Rebhuhn, Hase; aber am meisten bevorzugt er den Affen wegen dessen Ähnlichkeit mit dem Menschen und natürlich den Menschen, weil der höher steht als ein Affe. Darüber hinaus ist er ein Feinschmecker, er frißt nicht zweimal vom selben Stück. Wenn zum Beispiel Louison zum Frühmahl eine Schulter des Herrn ständigen Sekretärs verspeist hätte, so würde sie mitnichten zum Abendbrot die andere Schulter anrühren. Sie ist leckermäulig wie die Katze eines Erzbischofs.“
Hier zog der ständige Sekretär eine Grimasse.
„Mein Gott, Monsieur“, fuhr Corcoran fort, „ich weiß wohl, daß Louison unrecht hat, daß beide Schultern gleich gut sind; aber das ist eben ihr Charakter, so was ändert sich nicht mehr.
Nun, ich brach von Batavia aus auf, trug mein Gewehr über der Schulter und hatte riesige Schuhe an den Füßen wie ein Pariser, der in der Ebene von Saint-Denis Hasen jagen will. Mein Schiffseigner, Herr Cornelius van Crittenden, wollte mich von zwei Malaien begleiten lassen, die den Tiger aufspüren und sich statt meiner von ihm fressen lassen sollten, falls er zufällig schneller gewesen wäre als ich. Sie werden sehr wohl verstehen, daß ich, René Corcoran, dessen Urgroßvater der Onkel des Vaters von Robert Surcouf war, bei diesem Vorschlag in lautes Gelächter ausbrach. Entweder man ist aus Saint-Malo, oder man ist es nicht, nicht wahr? Nun, ich bin aus Saint-Malo, und soviel ich weiß, hat man noch nie gehört, daß ein Tiger einen aus Saint-Malo gefressen hätte. Doch das beruht auf Gegenseitigkeit, denn auch in Saint-Malo hat man bei Tisch noch nie einen Tiger vorgesetzt bekommen.
Da ich aber trotzdem Hilfe brauchte, um mein Zelt und meinen Proviant zu transportieren, folgten mir die beiden Malaien mit einem kleinen Karren.
Einige Meilen hinter Batavia stieß ich auf einen Fluß von respektabler Tiefe, der den Affenwald, der etwa so groß wie das Seine-Departement war, allerdings mit mehr fleischfressenden Pflanzen versehen, durchquert. In diesem stockfinsteren Dickicht gab es Löwen, Tiger, Boas constrictor, Panther, Kaimane, kurz, die wildesten Tiere der Schöpfung – ausgenommen den Menschen, denn dieser tötet nie aus Zwang, sondern nur um des Vergnügens willen.
Etwa ab zehn Uhr vormittags wurde die Hitze so unerträglich, daß selbst die Malaien, die ja immerhin an ihr eigenes Klima gewöhnt waren, um ein Einsehen baten und sich im Schatten lagerten. Ich hockte mich, eine Hand am Karabiner, auf unseren Karren, denn ich befürchtete irgendeine Überraschung. Bald war ich eingeschlafen.
Es muß etwa gegen zwei Uhr nachmittags gewesen sein, als ich plötzlich durch ein entsetzliches Geschrei geweckt wurde. Ich kniete mich nieder, entsicherte den Karabiner und erwartete den Feind mit Ungeduld.
Die Schreie kamen von meinen beiden Malaien, die erschreckt herbeigelaufen kamen, um hinter dem Karren Deckung zu suchen.
‘Herr! Herr!’ schrie einer von ihnen, ‘es ist der Gebieter, der sich uns nähert. Nehmt Euch in acht!’
‘Welcher Gebieter?’ fragte ich.
‘Der Herr Gebieter Tiger!’
‘Na fein, er erspart mir die Hälfte des Weges. Habt ihr denn schon etwas von diesem schrecklichen Gebieter gesehen?’
Indem ich das sagte, sprang ich von dem Karren herunter und schritt dem Feind entgegen. Man sah ihn noch nicht, aber man konnte am Erschrecken und der Flucht aller anderen Tiere spüren, daß er näher kam. Die Affen beeilten sich, auf die Bäume zu klettern. Aus sicherer Höhe schnitten sie ihm ihre Grimassen und bewiesen ihren Mut. Die kühnsten versuchten sogar, ihm einige Kokosnüsse auf den Kopf zu werfen. Ich unterschied nur an der Bewegung der geknickten und raschelnden Blätter die Richtung, aus der er sich näherte. Nach und nach kam diese Bewegung immer mehr auf mich zu, und da der Weg kaum breit genug war, um zwei Karren durchzulassen, befürchtete ich, ihn zu spät zu sehen und nicht genügend Zeit zu haben, um ihn vor die Flinte zu bekommen, denn das Blätterdach verbarg ihn vollends.