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Ob mir Malebranche erklären kann, weshalb der Tiger regelmäßig jeden Abend zu der Mauer tigerte, um seine Louison sehen zu können, und weshalb diese wohl Skrupel empfand, ihm sofort in den Urwald zu folgen und ihr freies Leben wiederaufzunehmen? War es nicht die Freundschaft zu Corcoran (ein Tor, wer daran zweifeln kann), die sie hinderte, Bhagavapur zu verlassen? Sie kannten sich so lange und waren so miteinander vertraut, daß anscheinend nichts sie hätte trennen können.

Sie trennten sich trotzdem.

Die Unterhaltung des großen Tigers mit Louison mußte interessant sein, denn Louison schien sehr erregt. Corcoran, der die Sprache der Tiger übrigens genausogut verstand wie Japanisch oder Altphilippinisch, spitzte seine Ohren. Folgendes bekam er zu hören:

„Oh, liebe Schwester mit den bernsteingelben Augen, die in der dunklen Nacht funkeln wie die Sterne am Himmel, komm mit mir und verlaß diesen staubigen Ort. Verlaß die vergoldeten Zimmer und den prächtigen Palast. Erinnere dich an Jawa, dieses schöne und weite Land, wo wir zusammen unsere Kindheit verlebt haben. Von dort bin ich gekommen, bin von Insel zu Insel geschwommen, bis ich nach Singapur kam, wo ich alle Tiger Asiens nach meiner Geliebten fragte. Drei Jahre lang habe ich Jawa, Sumatra und Borneo durchstreift. Ich habe die ganzen Molukken abgesucht, alle Brüder und Schwestern im Königreich Siam befragt, deren Fell so seidig glänzt, auch jene von Ava und Rangun, deren Stimme wie ein Donnerschlag grollt, und auch die Tiger vom Gangestal, die im schönsten Land der Welt leben. Endlich habe ich dich wiedergefunden. Komm mit mir an das Flußufer inmitten grüner Wälder. Mein Palast ist das weite Tal, sind die Berge, die sich in den Wolken verlieren, ist der Gaurisankar, dessen ewigen Schnee noch nie der Fuß eines Menschen betreten hat. Die ganze Welt gehört uns, wie sie allen Geschöpfen gehört, die frei unter Gottes Blick leben wollen. Wir werden gemeinsam Hirsch und Gazelle jagen. Unser Lager wird das frische Gras des duftenden Tals sein, unser Dach die Baumwipfel. Komm mit mir.“

Louison ließ sich nicht erweichen. Mit einem beredten Augenaufschlag wies sie auf Corcoran hin, was in der Sprache der Tiger nur heißen konnte: Mein lieber Gefährte mit dem gestreiften Fell, ich höre deine Worte wohl, aber wir sind nicht allein, es gibt Zeugen.

Der Tiger drehte seinen Kopf zu dem Bretonen. Er funkelte ihn böse an, was nur bedeuten konnte: Dieser Wicht läßt dich nicht gehen? Sei ruhig, ich werde ihn auf der Stelle aus dem Weg räumen.

Schon sammelte er sich zum Sprung auf die Mauer. Corcoran zog den Revolver, um ihn gebührend zu empfangen.

Im selben Augenblick, da der große Tiger zum Sprung ansetzte, schnellte aus dem Dickicht ein anderer Tiger, den bisher weder jemand gesehen noch gehört hatte, auf ihn zu, packte ihn an der Kehle und wälzte sich mit ihm im Gras. Der erste machte sich aus dem Biß des zweiten frei, sprang auf die Füße und krallte sich in den Bauch seines Gegners, der ein unterdrücktes Fauchen von sich gab. Der Ausgang des Kampfes schien ungewiß. Louisons Verehrer, obwohl durch das Auftreten seines Gegners überrascht worden, verteidigte sich zäh. Ihre Kräfte waren beide gleich, und gegenseitiger Haß schien sie immer wieder neu zu beleben. Louison sah dem Kampf seelenruhig zu, obwohl sie innerlich nicht unbeteiligt war; doch sie hatte zuviel Stolz, ihre Sorge zu zeigen, daß ein Bengaltiger ihren Gefährten aus Jawa, der sie so lange gesucht hatte, besiegen könnte.

Inzwischen schien sich die Waage jedoch gegen Louisons Verehrer zu neigen. Er rollte sich auf dem Gras und ließ ein heiseres Winseln hören. Bei diesem Winseln wurden Louisons Augen zu schmalen Schlitzen. Sie fauchte laut auf, was zu bedeuten schien: Elender, du machst deiner Herkunft Schande.

Dieses Fauchen gab dem Tiger Kraft und Mut zurück. Er betrachtete Louison ein letztes Mal, schnappte verzweifelt mit den Zähnen nach seinem Gegner und trollte sich in Blitzesschnelle auf einen benachbarten Laubbaum, in dessen Blätterdach er Zuflucht zu suchen schien.

Der andere glaubte den Kampf gewonnen zu haben und stimmte mit einem Getöse, das Donnergrollen glich, seinen Triumphgesang an.

Aber dieser Gesang war genauso kurz wie die Freude über den Sieg. Der Besiegte hatte sich von Baum zu Baum bis in die Äste einer Sykomore geschlichen, unter der der Sieger sein Triumphgeheul vollführte. Von dort sprang er mit einem Satz auf ihn, warf ihn zu Boden und biß ihm die Kehle durch.

Diesmal war der Kampf endgültig zu Ende, und der große Tiger schien die Glückwünsche Louisons zu erwarten. Diese war so von seinem Mut entzückt, daß sie sich endlich doch entschloß, von der Mauer herabzuspringen und mit ihm in der Dunkelheit zu verschwinden.

Corcoran verspürte anfangs den Drang, ihr zu folgen, aber dann überlegte er, daß die Nacht dunkel sei und voller Gefahren steckte und daß es zweifellos besser sei, den Tag abzuwarten. Er kehrte also niedergeschlagen über den Verlust Louisons in den Palast zurück und legte sich schlafen. Lange fand er keinen Schlaf. Als er endlich doch einschlief, träumte er so wirr, daß er mehrmals schweißgebadet hochschreckte.

Eine am Morgen eingeleitete Suche nach Louison blieb ergebnislos. Die Tigerin war mit ihrem Gefährten in die Wälder gezogen und blieb verschwunden.

Doch man möge sich trösten. Die Freundschaft zwischen Corcoran und Louison endete nicht auf diese Weise. Das Schicksal sollte sie bald wieder – allerdings unter den heikelsten Umständen – zusammenführen.

Dasselbe Schicksal überhäufte übrigens einige Monate später Sita und Corcoran mit grenzenlosem Glück. Gott schenkte ihnen einen Sohn, der nach dem Gründer der Raghuidendynastie Rama genannt wurde und der genauso schön wie seine Mutter war. Die Freude der Marathen war unbeschreiblich; drei Tage feierte das ganze Volk das freudige Ereignis. Corcoran, sich gegenüber sparsam, anderen gegenüber dafür großzügig, trug allein die Kosten für die ganzen Feierlichkeiten und öffentlichen Belustigungen. Zum erstenmal sah man im Marathenreich einen Fürsten, der dem Volk Geld schenkte, anstatt es ihnen abzupressen. Diese Tatsache selbst ist so wunderbar, daß sie die Glaubwürdigkeit der wahrheitsgetreuen Geschichte um Kapitän Corcoran eigentlich in Zweifel ziehen könnte, wenn nicht fünfzehn Millionen Marathen leben würden, die Augen- und Ohrenzeugen der Ereignisse waren und die Großzügigkeit des Maharadschas bezeugen können. Außerdem ist die Beschreibung der Festlichkeiten in einem Korrespondentenbericht der Bombay Times vom 21. Oktober 1858 nachzulesen. Der Korrespondent schließt seinen Bericht mit folgenden Überlegungen, die treffend die Unruhe charakterisieren, die die Maximen einer derart neuen Regierungsform bei den englischen Zeitungen Indiens auslösten:

„Man kann nicht leugnen, daß der gegenwärtige Maharadscha, obwohl ausländischer Herkunft, bei den Marathen außerordentlich populär ist. Er hat den Steuersatz um fünf Zehntel gesenkt; er hat die Aushebung aller wehrfähigen Männer, die seine Vorgänger vornehmen ließen, abgeschafft. Seine Armee, die nicht sehr zahlreich ist und sich nur aus Freiwilligen rekrutiert, manövriert mit einer äußerst bewundernswerten Geschlossenheit und Schnelligkeit; er hat aus Frankreich hunderttausend gezogene Karabiner einschließlich Bajonetten kommen lassen. Seine Artillerie, ohne überragend zu sein, ist relativ leicht bestückt, aber dadurch in dem gebirgigen beziehungsweise Dschungelgelände der unseren weit überlegen, wie überhaupt die ganze Schlagkraft unserer Indienstreitkräfte durch die Nachlässigkeit, Schlampigkeit und Unfähigkeit Lord Braddocks und seiner Vorgänger in einem desolaten Zustand ist. Corcoran ist nicht nur ein geschickter General, wie er Colonel Barclay ja bewiesen hat, sondern auch der erste Soldat seiner Armee. Seine Untergebenen bezeigen ihm eine fast göttlich zu nennende Bewunderung. Die Hindus glauben, und er tut nichts, um ihnen diesen Glauben zu nehmen, daß sein Körper unverwundbar sei. Er hat nicht seinesgleichen. Auch wäre niemand kühn genug, sich mit ihm zu messen, sollte man Lust verspüren, gegen ihn zu konspirieren. Allein seine Peitsche läßt die Feinde zittern. Desungeachtet ist er freundlich, wohlwollend, großzügig mit jedermann, vor allem mit den Schwachen und Unterdrückten.