Wer ihn auch immer in seinem Palast besuchen will, kann es jederzeit tun, ohne daß die Bediensteten den Ankömmling zurückweisen oder befragen würden. Ein einziger Teil des Palastes ist verbotenes Terrain; ihn darf kein Gentleman betreten: Das sind die Gemächer der Fürstin; doch zeigt sich die Maharani Sita jeden Tag in der Öffentlichkeit, und das Volk vermag sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Ich selbst muß gestehen, daß ihre himmlische Schönheit und ihre Sanftmut, von denen man sich Wunderdinge erzählt, nicht wenig dazu beigetragen haben, die Popularität des Maharadschas zu erhöhen.
Sein Versuch einer parlamentarischen Regierungsform hat viel bessere Erfolge gezeitigt, als man sie bei einem Volk, das bis vor kurzem noch der härtesten Sklaverei unterworfen war, hätte vermuten können; seine Deputierten, wie er sie nennt, beginnen ihre Interessen zu begreifen und sie sehr geschickt zu vertreten. Er versucht niemanden zu beeinflussen; geduldig hört er jedem zu, der mit einem Anliegen oder Vorschlag zu ihm kommt, selbst den Dümmsten leiht er sein Ohr, denn, so sagte er einmal lachend zu einem französischen Kollegen, den er eingeladen hatte, ihn zu besuchen, diese hätten auch ein Recht, ihre Meinung zum besten zu geben, zumal sie ja die Mehrheit in der Welt bildeten.
Ein solcher Mann, der durch einen besonderen Glücksumstand, durch seinen Mut und sein Genie Oberhaupt einer mächtigen Nation geworden ist, in einem Alter, da selbst Napoleon nur simpler Artillerieoffizier war, ist der ernsthafteste Feind, den wir Engländer in ganz Indien haben. Er hat das Genie von Robert Clive, ohne dessen Habsucht. Er mag Geld nicht, das für alle Generalgouverneure Indiens die große Leidenschaft war und ist; er versteht es, alle Kasten für ein gemeinsames Ziel zu begeistern; er lindert jedes Vorurteil und spricht alle Sprachen Indiens. Das sind die Mittel, die einer Nation gefallen, die bisher unfähig war, sich selbst zu regieren, und immer fremden Herren untenan war, seien es nun Moslems oder Christen gewesen.
Es ist Lord Braddocks Aufgabe, diesen gefürchteten Mann sorgfältig zu überwachen. Wenn er jedoch aus Europa zweifelhafte Abenteurer kommen läßt, die wie er nur dem Geld hinterherjagen, wenn er nach und nach seine ohnehin rauhbeinige Armee mit geldgierigen Raufbolden auffrischt, so wird er alle Unzufriedenen Indiens auf den Plan rufen und vielleicht unsere Herrschaft viel leichter in Gefahr bringen, als es der blutrünstige Nana Sahib oder die Königin von Audh vermocht haben.
Man mag einwerfen, daß Corcoran sich mit den aufständischen Sepoys hätte verbinden wollen; aber daß er es nicht getan hat, ist ja nachgerade ein Zeichen für seine friedlichen Absichten. Seine Friedfertigkeit ist nicht nur äußerlich aufgesetzt. Er wird seine Vorbereitungen treffen. Einige seiner Männer tragen die Botschaft ins Volk: In den Tavernen und auf allen Plätzen wird öffentlich darüber gesprochen, daß die Unabhängigkeit Indiens nahe ist und daß man sie einem Mann verdanke, der eine helle Haut habe und zu Schiff über das Meer gekommen sei.
Wenn man mit ihm eine dauerhafte Allianz eingehen könnte, so sollte man es lieber heute als morgen tun, denn es gibt keinen wertvolleren Freund – oder ernsthafteren Gegner – als ihn. Doch wie immer macht man die falsche Politik; erst hat man ihn als Abenteurer bezeichnet, als Räuber ohne Haus und Herd; man hat zwei fürchterliche Eigenschaften in ihm gereizt: den Ehrgeiz und die Rachsucht. Heute ist es wahrscheinlich schon zu spät, sich mit ihm einzulassen. Früher oder später wird er Krieg gegen uns führen. Wie alle anderen Fürsten Indiens ist auch er weit davon entfernt, die Gegenwart und Bevormundung eines englischen Residenten länger zu ertragen, er hat mit uns keinerlei freundschaftliche und gutnachbarliche Beziehungen unterhalten wollen. Er hat allen Flüchtlingen, die unsere Rache fürchteten, Asyl gegeben, und als man ihn aufgefordert hat, sie auszuliefern, hat er geantwortet, daß ein Franzose niemals seine Gäste ausliefere.
All das mag deutlich belegen, welches seine Absichten sind, und das klügste wäre, ihm zuvorzukommen, bevor er uns gefährlich werden könnte. Trotz seines kühnen Wesens und seiner Erfolge gibt es auch alarmierende Zeichen. Die Reformen, die er in der Administration eingeführt hat, und die Gesetze, die seine gesetzgebende Versammlung verabschiedet hat, haben den Haß der Zemindars hervorgerufen, die vor seiner Ankunft beinahe unabhängig von Holkar schalteten und walteten. Es dürfte nicht schwierig sein, ihre Eifersucht anzustacheln und ihnen dabei behilflich zu sein, den neuen Maharadscha zu stürzen. Das ist das einzige Mittel, der Gefahr, der wir ausgesetzt sind, zu begegnen, und Lord Braddock hätte eine schöne Gelegenheit, seine vorherigen Fehler auszumerzen.“
Man sieht unschwer an dem eben zitierten Artikel, welche Meinung die Engländer, seine Feinde, von Corcoran hatten.
Unter uns gesagt, sie hatten auch recht, denn der Bretone hatte sich insgeheim für den Plan von Dupleix und Bussy begeistert, der vorsah, die Engländer aus Indien zu vertreiben; ein Vorhaben, das bis zu seiner Verwirklichung allerdings noch fünf bis sechs Jahre Zeit brauchte.
4.
Doktor Scipio Rückert
Eines Morgens hatte Corcoran Bhagavapur verlassen, um die Grenzen seines Reiches zu inspizieren, Streitfälle außerhalb der Hauptstadt zu schlichten, Verbesserungen in der Verwaltung vorzunehmen, seine Armee manövrieren zu lassen und den Bau von Straßen und Brücken zu beaufsichtigen; er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich stets selbst von der Durchführung seiner Anordnungen zu überzeugen.
Sita war allein im Palast Holkars zurückgeblieben. Zu ihren Füßen spielte auf dem Rasen des Schloßparks der kleine Rama, der inzwischen etwa zwei Jahre alt war und dessen Züge schon die ganze Kraft seines Vaters und die Anmut der Mutter ahnen ließen. Der Elefant Scindiah schwenkte vor dem kleinen Jungen seinen Rüssel, was den Kleinen sehr belustigte. Aus einer Schachtel reichte er ihm Süßigkeiten, was seinerseits dem Elefanten sehr gefiel. Scindiah nahm das Zuckerwerk graziös mit seinem Rüssel entgegen und ließ es unter seinen Zähnen krachen.
„Scindiah, mein Freund“, sagte Sita, „gib gut auf meinen kleinen Rama acht und beschütze ihn, wie du mich beschützt hast, als ich so alt war wie er.“
Der Elefant schwenkte rhythmisch seinen Rüssel.
„Rama“, sagte seine Mutter, „gib ihm die Hand.“
Sofort streckte der Junge seine kleine Hand dem großen Rüssel des Elefanten entgegen, der nahm sie vorsichtig, schlängelte seinen Rüssel behutsam um den Leib des Jungen und hob ihn über den Kopf hinweg auf seine Schultern, wo der kleine Rama vor Freude kreischte. Auf einen Wink Sitas setzte der Elefant den Kleinen wieder vorsichtig auf die Erde. „Noch mal, noch mal“, kreischte Rama.
Der Elefant begann das Spiel von neuem, setzte den Jungen hinter seine Ohren, worauf der Kleine wiederum vor Entzücken aufschrie. (Welcher kleine Pariser Junge hat wohl derartige Späße schon mal erlebt!)
Scindiah mußte laufen, tanzen, rennen, und der kleine Rama fühlte sich ebenso glücklich wie sein Vater auf dessen Brigg.
Während dieses kindlichen Vergnügens meldete man Sita, daß Sugriva sie zu sprechen wünsche.
„Herrin“, sagte er zu ihr, als er sich ihr genähert hatte, „ein Fremder aus Europa hat sich im Palast vorgestellt. Er sagt, er sei Deutscher; Gelehrter und Fotograf, außerdem trägt er eine Brille. Was sollen wir mit ihm machen? Meine Meinung ist, ihn entweder fortzuschicken oder zu hängen. Er hat eher das Aussehen eines Spions als eines ehrenwerten Mannes.“