Corcoran verstand den Sinn dieses Blickes. „Und du wirst auch mitkommen“, sagte er zu ihm. „Also, es ist entschieden?“
Der große Tiger blieb unbeweglich und starrsinnig. Louison ging nahe an ihn heran, fauchte einige besänftigende Worte in sein Ohr, deren Sinn ungefähr gewesen sein mußte:
„Was fürchtest du, lieber Freund meines Herzens. Bin ich nicht bei dir?“
Der Tiger knurrte, vielmehr entgegnete:
„Das ist eine Falle. Ich erkenne diesen Maharadscha wieder. Es ist derselbe, der dich unter seinem Dach bewachte, während ich mir in dem feuchten Graben Rheuma holte. Liebe Louison, nimm dich in acht vor seinen bestrickenden Worten, und laß uns lieber in den Wäldern bleiben.“
Hier schien Louison wankend zu werden.
„Du wirst bei mir frei sein“, sagte Corcoran, „frei und geliebt wie früher. Laß diesen Flegel, der dich nicht verstehen will, doch hier. Wenn du dich allerdings nicht von ihm trennen willst, so nehme ich ihn eben mit. Deinetwegen werde ich ihn ertragen.“
Man weiß nicht, wie die Unterhaltung ausgegangen wäre, wenn nicht in diesem Augenblick das Auftauchen eines Neuankömmlings die Frage entschieden hätte. Dieser Neuankömmling war ein kleiner Tiger. Er war etwa so groß wie ein Dackel und schien nicht älter als drei Monate zu sein. Corcoran schätzte, daß es Louisons Kind sein müsse, und profitierte von dieser Entdeckung, um ein unschlagbares Argument ins Feld zu führen und die Angelegenheit zu seinen Gunsten zu entscheiden.
Der junge Tiger näherte sich hüpfend und springend seiner Mutter. Dabei sah er von Corcoran zu Louison und von Louison wieder zu Corcoran. Neugierig betrachtete er den Maharadscha. Der nahm ihn auf den Arm und streichelte ihn.
„Und du, Kleiner, willst du wenigstens mit mir kommen?“ fragte er.
Der junge Tiger suchte in den Augen seiner Mutter zu lesen, und er sah darin ihre Zärtlichkeit für Corcoran; das entschied schließlich über das Schicksal der Tigerfamilie; dem Vater blieb nichts weiter übrig, als seinen beiden Lieblingen zu folgen. Der Bretone dachte nicht mehr an das Rhinozeros und gab den Befehl zum Aufbruch.
„Der Tag hat besser geendet, als ich zu hoffen glaubte“, sagte er zu Rückert. „Einen Moment habe ich geglaubt, ich würde die Beute dieses Tigers… Aber sagen Sie“, fügte er nachdenklich hinzu, „warum haben Sie nicht geschossen, als ich Ihnen zurief, Feuer zu geben?“
Diese Frage schien Scipio Rückert für kurze Zeit in Verlegenheit zu bringen. Doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt und erwiderte:
„Ich fürchtete, mein Schuß hätte statt des Tigers Sie treffen können.“
„Hm, hm. Das ist wohl Ihre deutsche Vorsicht!“ meinte Corcoran. Insgeheim dachte er: An der Sache stimmt etwas nicht. Nun, wir werden sehen.
Die Rückkehr nach Bhagavapur wurde zum Triumphzug. Louison machte Freudensprünge. Der große Tiger folgte ihr etwas tapsig, während der Kleine genauso fröhlich war wie seine Mutter und empfänglich für all das Neue, was er sah: Straßen, Plätze, Pagoden, Menschen, schließlich den Palast, in den man endlich Einzug hielt. Beim Anblick dieser neu hinzugekommenen Familie stießen sie Bediensteten Schreie des Entsetzens aus, und auch Sita schloß vor Schreck ihren kleinen Rama in die Arme.
Rama jedoch zeigte keinerlei Furcht. Er näherte sich fröhlich Louison und streichelte sie mit seiner kleinen Hand, als ob er sie schon lange kennen würde. Die Tigerin leckte ihm sanft über das Gesicht.
„Das ist meine liebe Louison“, sagte Corcoran. „Erkennst du sie nicht, Sita? Ihr haben wir mehr als einmal unser Leben und unsere Freiheit verdankt. Ihr Mann, der so bärbeißig dreinschaut, ist Meister Garamagrif, und ihren Sohn, den du mit Rama balgen siehst, wollen wir Moustache nennen. So, nun Schluß mit der Vorstellung. Kinder, laßt uns essen.“
Auch in der Folgezeit trübte nichts Louisons glückliche Heimkehr. Rama und sein Spielgefährte, der kleine Tiger Moustache, wurden bald ein unzertrennliches Freundespaar. Unter Louisons Aufsicht spielten sie alle Spiele, die Mensch und Tier in diesem Alter spielen. Die Aufsicht allerdings war mehr als nötig, denn Rama, Sohn eines Königs, wollte stets kommandieren. Moustache seinerseits fühlte sich als echtes Tigerkind und mochte nicht gehorchen. Louison hatte mitunter Mühe, den Frieden zwischen beiden aufrechtzuerhalten.
Falls sich übrigens jemand wundern sollte, weshalb den Tieren ein so wichtiger Platz in meiner Geschichte zukommt, während ich Grafen, Herzöge, Erzherzöge, Großherzöge, Großerzherzöge und so weiter vernachlässige, von denen die Welt (und die Bücher) ja voll sind, so wage ich zu behaupten, daß meine Helden, obwohl sie nicht mit Trompetengeschmetter und Schwertgeklirr an der Spitze ihrer Regimenter einherflanieren, doch nicht weniger interessant und ihre Leidenschaften nicht weniger leidenschaftlich, elementar und grausam sind. Ich will noch deutlicher werden. Hat nicht Scindiah mit seiner Schwergewichtigkeit, seiner Ruhe, seiner Kaltblütigkeit, seiner Unerschütterlichkeit und seinem immensen Rüssel, der ja im Grunde nichts weiter ist als eine verlängerte Nase, eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen großen und noblen Persönlichkeiten, die die Geschicke von mächtigen Reichen lenken? Louison, so fein, so leicht, so mutig, so großmütig zu ihren Freunden, hätte sie nicht mehreren großen Damen als Modell dienen können? Und hatte sie nicht genausoviel Geist und gesunden Menschenverstand wie jedes andere menschliche Wesen (ausgenommen natürlich Corcoran, aber er ist nun mal die Hauptfigur in diesem Buch)? Ist sie nicht durch ihre Kraft und ihr Draufgängertum ein Beispiel für alle Generale der Kavallerie; wenn sie hätte sprechen können, würde sie sicher ein ebenso markantes Beispiel gegeben haben wie Murat oder Blücher.
Was soll man mir also vorwerfen? Sind wir denn so selbstsicher, allen übrigen Wesen der Schöpfung überlegen zu sein, daß uns keine anderen Geschichten zu gefallen vermögen als unsere eigenen?
Ja, ich ziehe den Tiger dem Menschen vor. Der Tiger ist schön, er ist stark; er ist nicht maßlos oder ausschweifend. Er hat wenig Freunde, aber er sucht sie sich mit Sorgfalt aus und begibt sich niemals in die Gefahr, sie zu verraten oder von ihnen verraten zu werden; er schmeichelt niemandem, er liebt die Einsamkeit wie alle berühmten Philosophen; er hat einen Abscheu vor der Sklaverei und hat noch nie fremde Dienste für sich in Anspruch genommen; kurz: Er ist eines der edelsten Geschöpfe unter der Sonne.
Und von welchem Menschen – wenn es nicht gerade einer meiner Leser ist – könnte man dasselbe Loblied singen?
6.
Wie sich Doktor Rückert entlarvt
Brief von George William Doubleface, Chef der Geheimpolizei von Kalkutta, an Lord Henry Braddock, Generalgouverneur von Hindustan
„Bhagavapur, den 15. Februar 1860
Mylord,
der Bote, der diesen Brief Eurer Lordschaft überbringen wird, ist ein verläßlicher Mann, für dessen Verläßlichkeit ich mich verbürge.
Dem Befehl Eurer Lordschaft Rechnung tragend, habe ich mich auf den Weg nach Bhagavapur gemacht und mich bei Hofe dem sogenannten Maharadscha Corcoran mit den Vertrauensbeweisen vorgestellt, die Eure Lordschaft für mich von Sir William Barrowlinson erbeten hatte. Unter dem Namen Doktor Scipio Rückert von der Universität Jena bin ich mühelos bis zu Kapitän Corcoran vorgedrungen, der mich anfangs – ich muß es gestehen – mit Mißtrauen aufgenommen hat. Aber bald ist dieses Mißtrauen – das übrigens seinem natürlichen Empfinden sehr fremd zu sein scheint – dem allerbesten Wohlwollen mir gegenüber gewichen. Wie groß auch sein Scharfsinn ist – ich muß gestehen, daß er alles überschreitet, was man sich vorstellen kann –, seine Sorglosigkeit und Furchtlosigkeit sind indes noch größer; ich bin bei der Ausführung der Mission, die mir anzuvertrauen Eure Lordschaft die Ehre hatten, keinerlei nennenswerten Schwierigkeiten begegnet.