Quaterquem war bis zu diesem Punkt seiner Erzählung gekommen, als plötzlich aus dem Waffenarsenal ein Schuß fiel; gleichzeitig wurde in Holkars Palast ein Tumult laut, der dem Luftschiffer das Wort abschnitt. Louison, die sich auf dem Teppich niedergelegt hatte und den Erzähler mit Neugier, in die sich Sympathie mischte, betrachtete, erhob sich plötzlich und spitzte die Ohren. Der kleine Rama machte ein mutiges Gesicht, als ob er sich schlagen wollte. Moustache erhob sich und setzte sich schützend vor Rama. Corcoran stand wortlos auf, nahm einen Revolver mit silbernem Griff, der an der Wand hing. Als er sah, daß Quaterquem ebenfalls nach einer Waffe griff, beruhigte er ihn und sagte:
„Mein Freund, bleibe bei den Frauen und wach über ihre Sicherheit. Ich laß dir Louison hier. Es ist kein Grund zur Aufregung, es wird einer der Palastwächter sein, der aus Versehen geschossen hat. Ich werde nach dem Rechten sehen…“
9.
Acajou, guter Neger
Von allen Seiten liefen Corcorans Bedienstete herbei, die einen bewaffnet, die anderen waffenlos, aber alle aufgeregt und einen unerwarteten Angriff befürchtend. Der Anblick des Maharadschas gab ihnen die Ruhe und Zuversicht wieder.
„Niemand darf entwischen!“ rief er. „Sugriva, laß die Tore des Palastes, des Parks und des Arsenals schließen!“
Gleichzeitig eilte er zum Tor des Arsenals. Dort hatte er Scindiah bekanntlich als Wächter zurückgelassen.
Erstaunt bemerkte er, daß Scindiah mit seinem Rüssel einen Europäer gegen die Mauer des Arsenals preßte und sich jener vergeblich bemühte, aus dieser etwas ungewöhnlichen Arretierung zu entweichen. Als er näher an den Gefangenen heranging, erkannte er Scipio Rückert.
Corcoran runzelte die Brauen. Sofort kam ihm der Verdacht wieder in den Sinn, den er anfangs gegen den Fotografen gehegt hatte.
„Was tun Sie hier?“ fragte er.
Rückert, vom Rüssel des Elefanten noch immer gegen die Mauer gedrückt, machte ein Zeichen, daß er keine Luft mehr bekäme. In Wahrheit wollte er nur Zeit für eine einigermaßen glaubhafte Antwort gewinnen.
„Laß ihn los, Scindiah“, sagte Corcoran. Der Elefant gehorchte, allerdings mit sichtbarem Bedauern.
„Herr Maharadscha“, sagte Rückert, „ich bitte meinen Fehler und meine bejammernswerte Neugier zu entschuldigen, aber ich bin schon dafür bestraft worden.“
Dabei lächelte er und versuchte den Vorfall herunterzuspielen. Doch Corcoran war nicht in der Verfassung, sich mit einem Spaß abspeisen zu lassen.
„Meister Scipio Rückert“, sagte er mit schneidender Stimme, „was wollten Sie in dem Arsenal? Warum haben Sie die Weisung nicht befolgt? Durch welche Tür sind Sie eingedrungen?“
„Herr Maharadscha“, sagte der Spion, der sich zu beruhigen begann, „man sollte einem unglücklichen Zwischenfall nicht zuviel Bedeutung beimessen. Ich hatte Sie oft von dieser wunderbaren Bronzekanone reden hören, die mit Gold und Silber ausgelegt ist und die die Jesuiten 1644 für einen Vorfahren Holkars haben gießen lassen. Auf ihrem Lauf ist die Schlacht Ramas gegen Ravana, die der Engel gegen die Rakshasas dargestellt, wie sie der Dichter Valmiki beschrieben hat. Ich gestehe Ihnen, daß ich nicht widerstehen konnte, in das Arsenal einzudringen, um die Gravuren auf dem Kanonenlauf zu kopieren. Ich hoffte, allen gelehrten Gesellschaften Europas eine Überraschung zu bereiten, indem ich meine Zeichnung veröffentlichen würde. Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie mit einer gewissen Eifersucht einen so wertvollen und seltenen Schatz bewachen würden.“
Diese Entschuldigung konnte wahr sein. Corcoran ging zu einem sanfteren Tonfall über.
„Aber wie sind Sie in das Arsenal eingedrungen? Und wer hat den Schuß abgegeben?“
Da tauchte plötzlich, wie dem Erdboden entwachsen, ein neues Gesicht auf und antwortete auf die englisch an Rückert gestellte Frage ebenfalls in einem etwas krausen Englisch, ohne gefragt worden zu sein:
„Das war ich, Mister, ich, Acajou, guter Neger.“
Der Neuankömmling war ein außerordentlich großer Neger von etwa sechs Fuß Höhe. Seine Arme waren so dick wie normale Beine und seine Beine so stark wie Säulen. Dabei hatte er ein ausgesprochen sanftmütiges Gesicht und zeigte beim Lachen zwei Reihen blendendweißer Zähne.
„Ich bewache Luftschiff, wenn Mister Quaterquem nicht da ist. Er war neugierig“, fügte er hinzu und zeigte auf Scipio. „Ich bin treu, er listig. Hat Revolverschuß im Arm.“
Tatsächlich tropfte aus Scipio Rückerts Arm Blut, aber er schien dem keine Bedeutung beizumessen; er wappnete sich gegen eine neue Gefahr, die aus einer ganz unverhofften Richtung kommen sollte.
„Nun, mein lieber Acajou“, sagte Corcoran, „erzähl mir doch mal, wie sich die ganze Sache zugetragen hat, da es keinen anderen Zeugen gibt als dich und den Elefanten, und mein armer Scindiah hat leider vom Himmel nicht die Gabe der Beredsamkeit mitbekommen.“
Acajou ließ sich nicht zweimal bitten. Mit der Zunge schob er aus seiner rechten Wange einen Kautabak, der ihm ein wenig Mühe bereitete, in die linke.
„Mister Quaterquem“, sagte er, „hat mir die Bewachung von Flugmaschine anvertraut. Ich mache rechtes Auge zu, als ich den da sehe, linkes aber mach ich weit auf. Er (dabei zeigte er auf Rückert) steigt über die Mauer vom Arsenal, macht irgendwelche Zeichen für jemanden auf der anderen Seite von der Mauer, springt in den Saal, durchsucht alles, schreibt was in sein Buch, zählt Bomben, Kugeln; ich bin sehr erstaunt, öffne auch rechtes Auge und seh ihn genau an. Er geht weiter, sieht Flugapparat, kommt auf mich zu und will vom ganzen Apparat Mechanik untersuchen. Das ist zuviel Neugier, ich zieh Pistole aus meinem Gürtel, ziele und schieß, peng! Er ist erschrocken, läuft weg, will durch die große Tür weglaufen, dort ist Scindiah, läßt ihn nicht. Scindiah ist Tier, keine Bestie.“
„Es ist gut, Acajou“, sagte Corcoran. „Hier sind zwanzig Rupien. Mister Quaterquem wird sehr zufrieden mit dir sein.“
Das Gesicht des Negers überzog sich mit einem strahlenden Lächeln. Er nahm die Rupien und kniete vor dem Maharadscha nieder, um ihm zu danken.
„Und Sie, Herr Scipio Rückert, Doktor an der Universität Jena, folgen mir an einen sicheren Ort, bis ich weiß, weshalb Sie die Mauern meines Arsenals überstiegen und dabei riskierten, über den Haufen geschossen zu werden.“
„Herr Maharadscha“, sagte der Spion mit schriller Stimme, „denken Sie an die Menschenrechte. Sie werden sich für diesen Machtmißbrauch gegenüber Preußen und England zu verantworten haben. Nehmen Sie sich in acht!“
„Freund Rückert“, erwiderte Corcoran, „ich habe mich Gott gegenüber zu verantworten, den ich mehr fürchte als alle Preußen und Engländer zusammen. Wenn Sie ein Ehrenmann sind, dann werden Sie nichts zu befürchten haben. Sollten Sie es nicht sein, verdienen Sie kein Erbarmen.“
In diesem Augenblick kam Sugriva, gefolgt von einigen Soldaten, die einen Hindu abführten, dem die Hände auf dem Rücken gebunden waren. Corcoran sagte zu ihm:
„Nimm Rückert gleich mit. Man soll ihn in einen Raum des Palastes sperren und zwei Schildwachen vor die Tür stellen Ich werde Louison beauftragen, den beiden bei der Bewachung behilflich zu sein.“
„Maharadscha, soll man die beiden Gefangenen voneinander trennen?“
Rückert, der bis jetzt die Fassung bewahrt hatte, schien zum erstenmal verwirrt zu sein. Mit den Augen machte er dem Hindu ein Zeichen, ohne Zweifel, um ihn zum Schweigen zu bewegen. Doch das Zeichen war überflüssig gewesen, der Hindu hatte keine Miene beim Anblick Rückerts verzogen. Corcoran jedoch war der versteckte Blick aufgefallen.
„Wo hast du denn diesen Mann aufgegriffen?“ fragte er Sugriva.
„Herr, nicht ich habe ihn ertappt, das war Louison. Ich befolgte sofort Ihren Befehl und ließ durch Soldaten den Park abriegeln und das Arsenal umringen, als ich einen Mann bemerkte, der zu Pferd auf dem Weg nach Bombay davongaloppierte. Diese Eile erregte meinen Verdacht. Wenn man ein ruhiges Gewissen hat, braucht man sich doch nicht so eilig aus dein Staub zu machen. Ich habe ihm zugeschrien, er möge stehenbleiben. Da er aber zu Pferd war und ich zu Fuß, hätten wir seine Spur sicher verloren, wenn nicht plötzlich Louison erschienen wäre.“