„Laß uns hinübergehen“, sagte Corcoran, neugierig geworden:
Das Zimmer, das als Bibliothek diente, war das größte im ganzen Haus.
Etwa fünfzigtausend Bände standen in den Regalen aus Eichenholz. Selbstverständlich waren die Bücher jeden Ursprungs in allen Sprachen geschrieben, französische und englische Ausgaben dominierten jedoch. In perfekter Ordnung standen da:
Achtzehn Exemplare Shakespeare.
Zwölf Exemplare Homer (zwei in griechisch, drei englische, fünf französische und zwei deutsche Übersetzungen).
Fünfundsiebzig Bände von Musée des familles.
Dreiundzwanzig Exemplare des Don Quichotte.
Zahlreiche Romane von Walter Scott, Alexandre Dumas, Paul de Kock, George Sand und einiger anderer Zeitgenossen, die ich hier nicht aufzählen möchte, um ihre sprichwörtliche Bescheidenheit nicht zu verletzen.
„Offengestanden“, sagte Quaterquem, „ist mein ganzes Mobiliar ein Durcheinander angeschwemmter Möbelstücke, das von meinem Vorgänger gesammelt wurde. Die einzige Sache, die in dieser Mischung besonderer Gegenstände jeder Art und jeden Ursprungs wirklich mir gehört, ist folgende… Acajou!“
Der Neger lief herbei.
„Laß Nini und Zozo die Saucen allein kosten. Hol mir Plick und Plock! Der Maharadscha will vor Sonnenuntergang noch einen Spaziergang machen.“
Acajou verschwand und erschien fast sofort wieder.
Plick und Plock waren zwei Shetlandponys, etwas kleiner als Esel, aber von einer tatsächlich bewundernswerten Schnelligkeit und Robustheit.
Corcoran beglückwünschte seinen Freund. „Ich hätte ja gern Araber- oder Turkmenenpferde auf meine Insel mitgenommen“, entgegnete Quaterquem, „doch mein Luftschiff ist dafür nicht groß genug. Es wäre etwas zuviel Ballast gewesen.“
Trotz ihrer Kleinheit waren Plick und Plock wirkliche Renner, und auf dem Rasen von Chantilly hätte man Mühe gehabt, etwas Gleichwertiges zu finden; in weniger als einer Viertelstunde gelangten sie zum Mittelpunkt der Insel, und die beiden Spaziergänger setzten ihren Fuß auf einen kleinen Hügel, von dem aus man die gesamte Insel überblicken konnte. Quaterquem zeigte auf das Meer, das anscheinend ganz friedlich vor ihnen lag.
„Siehst du dort diesen leichten Sog“, sagte er, „der nach und nach größer wird und auf dem Sand am Fuß der Klippe ausläuft? Das ist der Strudel, von dem ich dir erzählt habe. Heute abend sieht er aus wie eine Öllache; das kommt daher, weil sich der Wind gelegt hat. In einer halben Stunde wird er wieder auffrischen. Die Wellen werden zum offenen Meer zurückfluten und sich in einen weiten Trichter ergießen, den du dann deutlich von hier oben aus sehen würdest.
Dreh dich um und schau nach links. Das sind meine Orangenbäume, meine Bananenstauden und meine Zitronenbäume. Dort sind meine Felder und Wiesen, denn ich habe viele Ställe mit Schafen, Rindern, Hühnern, Truthähnen, vor allem Schweine… Aber du sagst ja gar nichts. Wovon träumst du?“
„Ich träume von dem Essen, das uns Madame Nini zubereiten wird. Dieses Tal ist köstlich. Das Bächlein, das zwischen den Granitfelsen unter den Bäumen dahinplätschert, ist klar und tief. Der bewaldete Hügel schützt die Felder vor dem Wind, der vom Meer herüberweht, und dein Haus vervollständigt die Landschaft ideal. Du mußt hier glücklich sein, und ich denke, daß ich mit Sita unter diesen schattenspendenden Bäumen ebenfalls glücklich wäre; nur der Augenblick dafür ist noch nicht gekommen. Sich vor Tagesende auszuruhen ist nicht recht… Durch einen seltenen Glücksumstand habe ich vielleicht die Chance, hundert Millionen Menschen zu befreien, und ich soll mich in deine idyllische Einsiedelei zurückziehen. Nein, bei Brahma und Wischnu, entweder siege ich, oder ich werde untergehen. Und wenn mir die Vorsehung sowohl Tod als auch Sieg vorenthält, nun gut, ich sage nicht nein. Ich. sage vielleicht… Warten wir ab und trinken Tee, beziehungsweise gehen wir essen, denn sonst brennt der Braten an, und die Nacht überrascht uns noch.“
Corcoran irrte sich nicht. Er bemerkte Acajou, der mit beunruhigtem Gesicht in die Gegend starrte, um seine Herren davon in Kenntnis zu setzen, daß das Essen serviert sei und Nini schon nervös werde.
Plick und Plock verfielen in einen kurzen Galopp, der sie rasch über die Wiesen zum Haus brachte. Die Schönheit des Himmels, die Milde des Klimas, die Abwesenheit von Dieben und wilden Tieren hatten in dieser Freiheit jede Gefahr gebannt.
Als er das Eßzimmer betrat, war der Maharadscha von der Eleganz und Schönheit des Geschirrs überrascht. Überall erblickte man nur vergoldetes Silber, reines Gold, Silber, Elfenbein und altes Sèvresporzellan. Sämtliche Gefäße waren mit den verschiedensten Initialen versehen. Man fand alles, bis zu Grafenkronen.
Das Essen war abwechslungsreich und gut, die Saucen ausgezeichnet. Corcoran machte Nini ein Kompliment.
„Das ist noch gar nichts gegen die Konserven“, bemerkte Quaterquem. „Alles, was man an Köstlichem produziert, gelangt auf dem steten Weg der Schiffbrüche zu uns. Ich habe Berge von Reimser Schinken und Fleisch jeder Art. Ich habe aufgehört, diesen Fang einzufahren. Acajou hat Befehl, nur noch Bücher und Wein herbeizuschaffen, Mein Keller und meine Bibliothek sind dank dem Ozean die besten der Welt. Vor allem die Weine sind vorzüglich. Du verstehst sicher, daß man keine gewöhnlichen Weine nach Australien verschifft; die Ware würde nicht einmal den Preis für den Transport rechtfertigen. Nun, ich weiß nicht, wem diese Köstlichkeiten gehören, also lasse ich sie mir schmecken, außerdem könnte ich sie mit meiner Fregatte auch gar nicht an ihren Bestimmungsort bringen, denn ich kann nur sehr wenig Waren in ihr transportieren; was das betrifft, gibt es durchaus noch Verbesserungen für mein Luftschiff… Wie findest du übrigens den Wein?“
„Exzellent.“
„Es ist ein Elsässer Gewürztraminer aus dem Jahre 1811. Ich habe nur fünfundzwanzig Flaschen davon, und ich behaupte, daß kein König besseren trinken dürfte. Er lagert schon fünfzehn Jahre auf der Insel und ist durch denselben Schiffbruch an Land gespült worden wie Reverend Smithson. Aber dieser Gewürztraminer ist nichts im Vergleich zu einem Champagner, dessen Jahrgang ich leider nicht weiß, von dem ich jedoch, Gott sei Dank, genügend Vorräte habe. Wenn Jupiter und Buddha wüßten, was das für ein Weinchen ist, ich glaube, sie würden sofort zur Erde herabsteigen, um ihn mit mir zu trinken.“
Und so rauchten, tranken und schwatzten die beiden Freunde bei offenem Fenster, durch das der Wind die laue Brise und das Rauschen der sich brechenden Wellen hereintrug, und merkten, wie ihnen nach und nach die Lider schwer wurden. Als er sah, daß ihm Corcoran kaum noch zuhörte, führte ihn Quaterquem in das Zimmer, das er für ihn vorbereitet hatte.
„Hier sind Kerzen“, sagte er, „und Bücher, wenn du lesen möchtest. Hier steht Limonade, dort Tinte, da ist Papier, falls du ein Gedicht verfassen willst. Gute Nacht, vergiß deine Pläne, deine Feinde, deine Projekte, deine Diplomatie und alles, was dir zu schaffen macht. Du bist unter dem Dach eines Freundes. Schlafe in Frieden.“
Und er verließ ihn, ohne die Tür zu schließen. Wozu auch? Welchen Feind hatte er zu fürchten?
Dann begab sich Quaterquem ebenfalls zur Ruhe und fiel in einen tiefen, erquickenden Schlaf.
Acajou, Nini und Zozo schnarchten herzhaft. Auf dieser glücklichen Insel hatte jeder ein ruhiges Gewissen.
19.
Traum des Maharadschas
Gegen drei Uhr morgens wurde Corcoran von einem entsetzlichen Traum aus dem Schlaf gerissen.
Da er jedoch niemandem diesen Traum erzählte, nicht einmal Quaterquem, seinem intimsten Freund, ist es uns leider unmöglich, hier den Inhalt besagten Traumes wiederzugeben; auf jeden Fall jedoch muß es in diesem Traum von dunklen Vorahnungen gewimmelt haben, denn gleich bei Tagesanbruch erhob sich der Maharadscha und weckte seinen Freund.