Doch wollte Corcoran nichts aufs Spiel setzen. Seine Soldaten waren noch nicht kriegserfahren genug, um einem massiven Angriff des Feindes mit all dessen Kräften standzuhalten. Man mußte also zunächst den Gegner durch ständige kleine Scharmützel beunruhigen und dabei gleichzeitig den Marathen Zutrauen zu ihrer eigenen Stärke geben. Später wäre es zweifellos immer noch Zeit, sich zur Entscheidungsschlacht zu stellen.
Corcoran verfolgte diesen Plan mit außergewöhnlicher Strenge. Er ließ Schützengräben ausheben, baute Schanzen, umgab sein Lager mit einem tiefen Graben, errichtete Palisaden, hinter denen er seine zweihundert Kanonen in Stellung brachte. Danach überfiel er an der Spitze seiner auf Berber- und Turkmenenpferden einhergaloppierenden leichten Kavallerie kleinere Erkundungseinheiten der Engländer, rieb Konvois auf, die Nachschub an Proviant und Waffen ins englische Lager bringen sollten, so daß Barclays Soldaten schon Hunger zu leiden begannen.
Barclay war beunruhigt. Seine Operationsbasis war weit von Bombay entfernt. Die Nahrungsmittel gingen zur Neige. Fast tagtäglich erhielt er von Lord Braddock Depeschen, die ihn zur Eile mahnten, damit sein lautes Siegesgeschrei die dunklen Gerüchte über den Untergang von Sir John Spalding, die in Europa kursierten, überdecken mochten. Allerdings wagte Barclay nicht, den Befehl zum Angriff auf das befestigte Lager des Maharadschas zu geben. Andererseits bekam seine Kavallerie Corcorans Reitertrupps, die sich tagsüber an mehr als zwanzig verschiedenen Stellen zeigten, einfach nicht zu fassen.
Ein unglückseliger Zwischenfall, der zur Lösung dieser langen Geschichte führte, half schließlich Barclay aus seiner Verlegenheit.
Eines Abends, als Corcoran an der Spitze seiner Reiter von einem schnellen Geplänkel wieder ins Lager zurückkehrte, erschien Baber vor ihm und teilte mit, daß Sita, Rama, Scindiah, Louison und Garamagrif in der Gewalt der englischen Armee seien.
Diese schreckliche Nachricht schockierte den Maharadscha derartig, daß er für einen Moment kreidebleich wurde. Was? dachte er. So viel vergebene Mühe! So viel unnütz vergossenes Blut! So viel großartige Projekte, die an einem einzigen Tag vernichtet wurden.
Aber die Willenskraft des Maharadschas war so groß, daß er seine Schwäche überwand und keine Zeit daran verschwendete, sein Mißgeschick zu beweinen. Schließlich war er Bretone und aus Saint-Malo. So leicht konnte ihn nichts umwerfen.
„Woher hast du diese Neuigkeit?“ fragte er Baber.
„Nun, großer und erhabener Maharadscha, ich wurde Zeuge dieses Vorfalls. Ihr wart etwa seit einer Stunde mit der Kavallerie weggeritten. Außerhalb des Lagers war es ruhig, keine Engländer zu sehen. Die Fürstin wollte mit Scindiah zum Fluß hinabreiten, um ihm ein Bad zu gönnen. Rama und die Tiger begleiteten sie. Leider trafen wir auf eine Abteilung der englischen Kavallerie. Unsere Eskorte floh. Wendig, wie ich bin, schlängelte ich mich durch die Beine der Pferde hindurch, entging dem Geschoßhagel und lief hierher, um Euch zu benachrichtigen.“
Corcoran überlegte einen Moment.
„Was ist aus Louison geworden?“ fragte er.
„Herr, Louison, Garamagrif und Scindiah haben Ihre Hoheit nicht eine Sekunde im Stich gelassen.“
„Wenn Louison lebt, ist nichts verloren.“
Bevor jedoch Corcoran versuchte, mit Waffengewalt Frau und Sohn zu befreien, schrieb er an General Barclay einen Brief, den er durch einen Parlamentär überbringen ließ. Dieser Brief hatte folgenden Wortlaut:
„Im Lager von Kharpur
Sir,
ein englischer Gentleman führt, so nehme ich an, keinen Krieg gegen Frauen und Kinder. Man hat mir mitgeteilt, daß heute durch einen unglücklichen Zwischenfall meine Frau und mein Kind in Ihre Hände gefallen sind. Ich hoffe, daß Sie sich nicht weigern werden, ihnen ihre Freiheit wiederzugeben, oder wenigstens bereit sind, mit mir ein annehmbares Übereinkommen zu treffen.
Ich bitte Sie, die Versicherung meiner ehrerbietigsten Grüße entgegenzunehmen.
Maharadscha Corcoran I.“
Eine Stunde später erhielt Corcoran folgende Antwort:
„General Barclay an Sir Corcoran, sogenannter Maharadscha des Reiches der Marathen
Sir,
wie Sie ganz richtig bemerkt haben, führt ein englischer Gentleman keinen Krieg gegen Frauen und Kinder; aber ich fürchte, meine Pflichten gegenüber meinem Land, meiner Regierung und Ihrer Allergnädigsten Majestät zu vernachlässigen, wenn ich Holkars Tochter, Ihrer Gattin, die Freiheit schenkte, es sei denn, Sie akzeptierten die folgenden Bedingungen:
Erstens: Die marathische Armee wird ab heute aufgelöst, und jeder ihrer Soldaten kehrt nach Hause zurück.
Zweitens: Der sogenannte Maharadscha stellt sich unverzüglich dem englischen Generalgouverneur zur Verfügung.
Drittens: Der sogenannte Maharadscha übergibt General Barclay eine unter Eid als wahrheitsgemäß bestätigte Liste, in der alle Habe, Gegenstände und Immobilien, die Holkars Besitz sind beziehungsweise waren, aufgeführt werden, damit oben angeführte Hinterlassenschaft zur Verfügung oben angeführten Generals stehen kann.
Viertens: Die Festung von Bhagavapur sowie alle Befestigungsanlagen im Land werden mitsamt ihren Arsenalen, ihren Waffen, Proviant und Munition jeder Art, die sich gegenwärtig in ihnen befinden, der englischen Armee zur Verfügung gestellt.
Fünftens: Im Austausch für alle oben angeführten Bedingungen erhält schließlich der sogenannte Maharadscha von der englischen Regierung eine Pension von eintausend Pfund Sterling (das entspricht fünfundzwanzigtausend französischen Franc), worauf sich sogenannter Maharadscha verpflichtet, daß weder er noch seine Frau noch sein Kind in einer Frist, die fünfzig Jahre nicht unterschreitet, nach Indien zurückkehren wird.
Wenn diese Bedingungen, wie ich hoffe, Sir Corcoran als annehmbar erscheinen, bitte ich ihn, ein Doppel des Vertrages in beiden Sprachen ausfertigen zu lassen. Ich erkläre mich dann bereit, den Vertrag vor Einbruch der Dunkelheit zu unterzeichnen.
Sollte der Vertrag auf dieser Grundlage abgeschlossen werden, würde ich mich glücklich schätzen, die Bekanntschaft mit dem Maharadscha Corcoran zu vertiefen und die Hand eines Gentleman zu schütteln, für den ich immer die größte Wertschätzung empfunden habe.
John Barclay, Generalmajor der
Armee Ihrer Britischen Majestät.
Gegeben im Lager, den 14. März
1860“
Corcoran drehte das Schreiben mißbilligend zwischen seinen Fingern.
Abdanken, die Marathen verraten, dachte er. Mich ausplündern lassen. Eine Pension des Räubers annehmen. Und dazu besitzt er noch die Frechheit, mir seine Wertschätzung anzubieten, wenn ich annehme. Na schön, ich werde ihm etwas anbieten, was er nicht erwartet hat.
Den englischen Parlamentär schickte er ohne Antwort zurück.
Am Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, versammelte er fünfhundert seiner treuesten und kühnsten Reiter um sich, ließ sie die Hufe der Pferde mit Filz und Leinen umwickeln, damit ihr Hufgetrappel gedämpft würde, und ritt im Schritt mit seiner Begleitung davon.
Baber diente als Führer.
Da die Nacht außergewöhnlich dunkel war, rechnete die englische Armee mit einem eventuellen Überfall der Marathen und war auf dem Posten. Die Gefangenen lagerten in der Mitte. Ein Bataillon hatte einen Ring um sie gebildet und bewachte sie. Die, Anwesenheit der beiden großen Tiger schreckte die Engländer ab, sich ihnen zu dicht zu nähern. Man hatte wohl daran gedacht, sie zu erschießen, doch die Tiere hatten sich so um Sita und Rama gruppiert, daß die Kugeln wohl oder übel auch die beiden letzteren hätten treffen können, was den Krieg unsühnbar hätte werden lassen, denn Corcoran würde diesen Mord nie verzeihen, und Barclay war sich seines Sieges durchaus nicht so sicher, daß er sich einer derart gefährlichen Chance ausgesetzt hätte.