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Das konnte man ihm kaum verübeln, dachte Daidre. Der Wanderer war eine äußerst fragwürdige Erscheinung. Sein Auftauchen auf dem Küstenweg allein hätte das Misstrauen der Polizei nicht erweckt; es handelte sich schließlich um eine beliebte Wanderstrecke, jedenfalls bei gutem Wetter. Doch sein Äußeres und sein Geruch standen in keinem Verhältnis zu seiner Sprechweise. Er war offensichtlich gebildet und wahrscheinlich aus einer feinen Familie, und Paddy Collins hatte ungläubig die Augenbrauen gehoben, als der Mann behauptete, keine Ausweispapiere bei sich zu haben.

»Was heißt das?«, hakte Collins nach. »Haben Sie keinen Führerschein, Mann? Kreditkarte? Gar nichts?«

»Gar nichts«, beteuerte Thomas. »Es tut mir sehr leid.«

»Sie könnten also Gott weiß wer sein, ja?«

»Vermutlich, ja.« Thomas hörte sich an, als wünschte er, genau das wäre der Fall.

»Und ich soll einfach glauben, was immer Sie von sich behaupten?«, setzte Collins nach.

Thomas hatte die Frage offenbar als rhetorisch aufgefasst, denn er hatte nicht geantwortet. Der drohende Tonfall in Collins' Stimme schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er war lediglich an das kleine Fenster getreten und hatte in Richtung Strand geblickt, wenngleich man den von hier aus nicht sah. Dort am Fenster war er dann geblieben, vollkommen reglos, und fast hätte man meinen können, er atmete nicht einmal.

Daidre wollte ihn fragen, an welcher Art von Verletzung er litt. Als sie in ihrem Cottage über ihn gestolpert war, waren es nicht Blut auf Gesicht oder Kleidung oder sonst irgendwelche äußerlichen Anzeichen gewesen, die sie bewogen hatten, ihm ärztliche Hilfe anzubieten. Es war vielmehr der Ausdruck in seinen Augen gewesen. Er litt unermessliche Qualen eine seelische Verletzung, keine körperliche. Das sah sie jetzt. Sie kannte die Anzeichen.

Als Sergeant Collins sich rührte, aufstand und in Richtung Küche ging vermutlich, um sich eine Tasse Tee zu machen, denn sie hatte ihm gezeigt, wo alles Notwendige stand, ergriff Daidre die Gelegenheit, den Wanderer anzusprechen: »Wie kommt es, dass Sie allein und ohne Ausweispapiere hier unterwegs sind, Thomas?«

Er wandte sich nicht vom Fenster ab und gab auch keine Antwort, doch sein Kopf bewegte sich ein klein wenig, was darauf hindeutete, dass er zuhörte.

Sie fuhr fort: »Was, wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre? Es kommt immer wieder vor, dass Menschen von den Klippen stürzen. Sie machen einen falschen Schritt, rutschen aus…«

»Ja«, erwiderte er. »Ich habe die Mahnmale gesehen.«

Man fand sie überall entlang der Küste: manchmal nur in vergänglicher Form, wie etwa einem Strauß welker Blumen an der Stelle, wo sich ein tödlicher Sturz ereignet hatte, manchmal auch als Sitzbank mit einem passenden Spruch, dann wieder als etwas so Dauerhaftes wie ein Gedenkstein mit dem Namen des Verstorbenen. Ein jedes erinnerte an das Ende eines Surfers, Kletterers, Wanderers oder Selbstmörders. Es war unmöglich, den Küstenpfad entlangzuwandern und sie nicht zu sehen.

»Da war ein sehr kunstvolles darunter«, fuhr Thomas ruhig fort, als wäre dies das vordringliche Thema, das sie mit ihm erörtern wollte. »Ein Tisch und eine Bank aus Granit. Granit ist übrigens die richtige Wahl, wenn das Gedenken gegen die Zeit bestehen soll.«

»Sie haben mir nicht geantwortet«, bemerkte sie.

»Ich war der Ansicht, das hätte ich gerade getan.«

»Wenn Sie gestürzt wären…«

»Das könnte immer noch passieren«, erwiderte er. »Wenn ich weiterziehe. Sobald das hier vorüber ist.«

»Würden Sie nicht wollen, dass Ihre Angehörigen davon erfahren? Sie haben doch Angehörige, nehme ich an?« Sie fügte bewusst nicht hinzu: Selbst bei Leuten Ihrer Sorte ist das für gewöhnlich der Fall. Ihr Tonfall sagte dies bereits unmissverständlich.

Er reagierte nicht. Mit einem lauten Klick schaltete der Kessel in der Küche sich aus. Dann hörte sie Wasser in eine Tasse plätschern. Sie hatte sich also nicht getäuscht: ein Tee für den Sergeant.

Sie fragte: »Was ist mit Ihrer Frau, Thomas?«

Er verharrte vollkommen reglos und wiederholte nur: »Meine Frau.«

»Sie tragen einen Ehering, darum nehme ich an, Sie sind verheiratet. Und ich könnte mir vorstellen, sie würde erfahren wollen, wenn Ihnen etwas zustieße, oder?«

In dem Moment kam Collins aus der Küche. Aber Daidre hatte das Gefühl, der Wanderer hätte auch dann nicht geantwortet, wenn der Sergeant nicht eingetreten wäre.

Collins vollführte eine Geste mit der Tasse, sodass Tee auf die Untertasse schwappte, und sagte: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Nein, nur zu«, antwortete Daidre.

Vom Fenster kam Thomas' Stimme: »Da kommt die Kripo.« Er klang, als wäre ihm vollkommen gleichgültig, dass ihr Thema vorerst aufgeschoben war.

Collins trat zur Tür. Daidre hörte ihn ein paar Worte mit einer Frau wechseln. Als diese schließlich ins Wohnzimmer trat, war Daidre erstaunt.

Bislang kannte sie Detectives nur aus dem Fernsehen, wenn es gelegentlich vorkam, dass sie eine der unzähligen Krimiserien schaute, die den Äther verseuchten. Sie waren immer distanziert professionell und steckten alle in der gleichen langweiligen Einheitskleidung, die entweder ihre Psyche oder ihr Privatleben widerspiegeln sollte: die Frauen zwanghaft gepflegt und wie aus dem Ei gepellt in maßgeschneiderten Kostümen. Und die Männer schlampig. Erstere mussten sich in der Männerwelt durchsetzen, Letztere befanden sich auf der Suche nach dem weiblichen Engel, der sie retten würde.

Diese Frau jedoch, die sich als Detective Inspector Beatrice Hannaford vorstellte, passte überhaupt nicht in diese Schablone. Sie trug einen Anorak, schlammige Turnschuhe und Jeans. Ihr Haar war von einem so flammenden Rot, dass man fast hätte meinen können, es eilte ihr in den Raum voraus und riefe: »Gefärbt! Was dagegen?« Und es stand trotz des Regens in gegelten Igelstacheln vom Kopf ab. Sie fing Daidres Blick auf und bemerkte, noch bevor diese etwas gesagt hatte: »Sobald jemand "Oma" zu Ihnen sagt, betrachten Sie dieses ganze In-Würde-Altern-Geschwafel mit anderen Augen.«

Daidre nickte versonnen. Das war einleuchtend. »Sind Sie denn eine Oma?«

»Allerdings.« An Collins gewandt, fuhr sie fort: »Gehen Sie nach draußen, und holen Sie mich, wenn der Rechtsmediziner aufkreuzt. Halten Sie alle anderen Personen fern. Nicht dass es bei dem Wetter wahrscheinlich wäre, dass irgendwer hierherkommt, aber man weiß nie. Ich höre, die Nachricht hat schon die Runde gemacht?«, fragte sie Daidre, als Collins verschwunden war.

»Wir haben das Telefon im Salthouse Inn benutzt, also weiß man dort Bescheid«, antwortete Daidre.

»Und inzwischen zweifellos in der ganzen Umgebung. Kannten Sie den toten Jungen?«

Daidre hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass diese Frage ihr nochmals gestellt würde. Sie hatte ihre eigene Definition des Wortes "kennen", und entsprechend antwortete sie: »Nein. Ich wohne nicht hier, wissen Sie. Das Cottage gehört mir, ja, aber es ist nur meine Wochenendzuflucht. Ich wohne eigentlich in Bristol und komme nur dann hierher, wenn ich mal frei habe.«

»Was machen Sie beruflich in Bristol?«

»Ich bin Ärztin. Na ja, Tierärztin, um genau zu sein.« Daidre spürte Thomas' Blick auf sich, und ihr wurde heiß. Nicht dass sie sich schämte, Tierärztin zu sein im Gegenteil, sie war unbändig stolz darauf, zumal es alles andere als einfach für sie gewesen war, dieses Ziel zu erreichen. Doch sie hatte ihn glauben gemacht, Humanmedizinerin zu sein, als sie ihn angetroffen hatte. Sie wusste nicht recht, warum sie das getan hatte, nur dass es ihr lächerlich erschienen war, dem Mann, den sie für verletzt gehalten hatte, ihre Hilfe als Veterinärin anzubieten. »Ich behandele hauptsächlich größere Tiere.«

DI Hannaford zog die Brauen zusammen. Sie schaute von Daidre zu Thomas und schien sich zu fragen, welche Verbindung zwischen den beiden bestand. Oder vielleicht fragte sie sich auch, ob Daidres Antwort der Wahrheit entsprach. Trotz der unmöglichen Frisur sah sie aus wie jemand, der das gut einschätzen konnte.