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Selbst falls Eddie den Wagen gehört hatte, war er jedenfalls nicht an die Tür gekommen. Auch nicht, als Ben das Dreirad aus dem Kofferraum bugsierte. Doch als sie auf die verfallene Haustür zugingen, wartete er dort auf sie. Er hatte die Tür aufgerissen, noch ehe sie sie erreicht hatten, als hätte er sie durch eines der verdreckten, schiefen Fenster erspäht. Obwohl seine Mutter ihn gewarnt hatte, war Ben betroffen, als er seinen Vater sah. Alt, dachte er und er sieht noch älter aus, als er in Wirklichkeit ist. Eddie Kerne trug eine Altmännerbrille auf der Nase — ein klobiges schwarzes Gestell mit dicken, schmierigen Gläsern, und die Augen dahinter hatten beinah vollends ihre Farbe verloren. Eines war vom grauen Star getrübt, der, wie Ben wusste, niemals operiert werden würde. Und auch alles andere an Eddie war alt: die schlecht sitzenden, geflickten Kleidungsstücke, die Stellen im Gesicht, die beim Rasieren vergessen worden waren, bis hin zu den drahtigen Haaren, die ihm aus Nase und Ohren wuchsen. Sein Schritt war schleppend, die Schultern gebeugt. Die Personifizierung des Lebensabends. Ben spürte einen plötzlichen Schwindel bei seinem Anblick.

»Dad…«

Eddie Kerne musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit jener zackigen Kopfbewegung, die gleichzeitig abschätzte und urteilte. Dann trat er wortlos von der Tür zurück und verschwand im Innern des Hauses.

Unter anderen Umständen wäre Ben an diesem Punkt gegangen. Doch das »Sch-sch« seiner Mutter tröstete ihn auch wenn er sich nicht sicher war, wem der Laut hatte gelten sollen. Er hatte ihn geradewegs zurück in die Kindheit versetzt, und er hatte gewusst, was er bedeutete: Mummy ist hier, Liebling, du brauchst nicht zu weinen. Er hatte ihre Hand in seinem Rücken gespürt, und wie sie ihn vorwärtsgeschoben hatte.

Eddie wartete in der Küche auf sie: in dem einzigen einigermaßen bewohnbaren Raum im Erdgeschoss. Die Küche war hell erleuchtet und warm, während der Rest des Hauses in Schatten gehüllt war, vollgestopft mit Gerümpel und durchdrungen von Schimmelgeruch. In den Wänden hörte man die Mäuse huschen.

Sein Vater setzte den Kessel auf. Ann Kerne nickte bedeutungsvoll, als bewiese diese Handlung irgendeine Veränderung in Eddie, die mit dem äußerlichen Verfall einhergegangen war. Er schlurfte zum Schrank, holte drei Tassen, eine Dose Instantkaffee und eine eingerissene Schachtel Würfelzucker heraus. Als er all das zusammen mit einer Plastikkanne Milch, einem Laib Brot und einem Margarinewürfel auf dem verschrammten gelben Tisch abgestellt hatte, drehte er sich Ben zu: »Scotland Yard. Nicht die örtliche Wache, verstehst du, sondern Scotland Yard. Damit hättest du nicht gerechnet, he? Es ist eine Nummer zu groß für die hiesige Polizei. Das hättest du nicht gedacht, was? Die Frage ist: Hätte sie's gedacht?«

Ben wusste, wer mit sie gemeint war. Sie war, wer sie immer gewesen war.

Eddie fuhr fort: »Und die zweite Frage ist: Wer hat die gerufen? Wer will, dass Scotland Yard in diesem Fall ermittelt, und warum kommen die angerannt, als hätte ihnen einer Feuer unterm Hintern gemacht?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Ben.

»Darauf wette ich. Aber wenn es zu groß für die hiesigen Cops ist, dann heißt das, es ist schlimm. Und wenn es schlimm ist, dann steckt  sie dahinter. Die Vergangenheit hat dich eingeholt, Benesek. Ich habe immer gewusst, dass das eines Tages passieren würde.«

»Dellen hat nichts damit zu tun, Dad.«

»Sprich ihren Namen in meinem Haus nicht aus! Er ist ein Fluch!«

Seine Frau mahnte sanft: »Eddie…«, und sie legte eine Hand auf Bens Arm, als fürchtete sie, ihr Sohn könnte aufspringen und davonlaufen.

Doch der Anblick seines Vaters hatte die Dinge für Ben schlagartig in ein anderes Licht gerückt. So alt, dachte er. So schrecklich alt. Und gebrochen. Er fragte sich, wie er bis heute die Augen davor hatte verschließen können, dass das Leben seinen Vater längst besiegt hatte. Eddie Kerne war mit den Fäusten gegen dieses Leben angegangen und hatte sich geweigert, sich seinen Anforderungen zu unterwerfen. Den Kompromissen und Veränderungen. Das Leben zu seinen Bedingungen anzunehmen, setzte die Fähigkeit voraus, bei Bedarf den eigenen Kurs zu wechseln, Verhaltensweisen zu modifizieren und Träume der Realität anzupassen, gegen die sie bestehen mussten. Doch Eddie war dazu nie in der Lage gewesen, und darum war er zermürbt worden. Das Leben war über seinen zerbrochenen Körper hinweggespült.

Das Wasser begann zu kochen, und der Kessel schaltete sich ab. Als Eddie sich danach umwandte, trat Ben zu ihm. »Sch-sch«, hörte er seine Mutter murmeln, und noch einmaclass="underline" »Sch-sch.« Aber er stellte fest, dass er ihren Trost nicht mehr benötigte. Er stand von Angesicht zu Angesicht vor seinem Vater und sagte: »Ich wollte, die Dinge hätten für uns alle anders sein können. Ich liebe dich, Dad.«

Eddies Schultern waren mit einem Mal noch tiefer gebeugt. »Warum konntest du sie nicht abschütteln?« Seine Stimme klang so gebrochen wie sein Kampfgeist.

»Ich weiß es nicht«, gestand Ben. »Ich konnte es einfach nicht. Aber das lag immer nur an mir, nicht an Dellen. Sie trägt nicht die Schuld für meine Schwäche.«

»Du wolltest es einfach nicht wahrhaben…«

»Du hast recht.«

»Und jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Immer noch nicht?«

»Nein. Das ist nun mal meine ganz eigene Hölle. Verstehst du das? Und in all diesen Jahren hättest du sie niemals dir zu eigen machen dürfen.«

Eddies Schultern bebten. Er versuchte, den Kessel anzuheben, aber es wollte ihm nicht gelingen. Ben tat es an seiner statt, trug den Kessel zum Tisch und gab Wasser in die Becher. Er wollte gar keinen Kaffee; der Kaffee würde ihn nachts bloß wach halten, wo er doch eigentlich nur mehr endlos schlafen wollte. Aber er würde ihn trinken, wenn es das war, was von ihm erwartet wurde, wenn das die Kommunion war, die sein Vater ihm offerierte.

Sie setzten sich. Eddie als Letzter. Sein Kopf schien zu schwer für seinen Hals und kippte nach vorn, bis das Kinn beinah auf der Brust lag.

»Was ist, Eddie?«, fragte Ann ihren Mann.

»Ich habe es dem Polizisten erzählt«, antwortete er schleppend. »Ich hätte ihn von meinem Grundstück jagen sollen, aber ich habe… ich wollte… Ich weiß nicht, was ich wollte. Benesek, ich habe ihm alles gesagt, was ich wusste.«

Die schlaflose Nacht, die folgte, hatte daher zwei Ursachen: den Kaffee, den er getrunken, und das Wissen, das er erlangt hatte. Denn hatte das Gespräch mit seinem Vater wenigstens ein wenig dazu beigetragen, einen Teil ihrer quälenden Vergangenheit zu begraben, so hatte es gleichzeitig einen anderen Teil wiederauferstehen lassen. Und diesem Teil hatte er den ganzen Abend und die Nacht lang geradewegs ins Gesicht sehen müssen. Er hatte darüber nachgrübeln müssen. Dabei hatte er weder das eine noch das andere gewollt.

Gemessen am Rest seines Lebens, hätte eine Nacht nicht von Belang sein dürfen. Eine Party mit seinen Kumpeln, mehr nicht. Er wäre nicht einmal hingegangen, hätte er nicht zwei Tage zuvor den Mut aufgebracht, sich von Dellen Nankervis zu trennen wieder mal. Nur deshalb war er niedergeschlagen gewesen; sein Leben, so hatte er geglaubt, ein Trümmerfeld. »Du brauchst Ablenkung«, hatten seine Freunde befunden. »Dieser Parsons-Wichser gibt eine Party. Alle sind eingeladen, also komm mit. Damit du ausnahmsweise mal an was anderes denkst als an die blöde Schlampe.«

Doch das hatte sich als unmöglich erwiesen, denn auch Dellen war dort gewesen: in einem leuchtend roten Sommerkleid und hochhackigen Sandalen. Wohlgeformte Waden, gebräunte Schultern, langes, dichtes blondes Haar und Augen blau wie Vergissmeinnicht. Siebzehn Jahre alt, mit dem Herzen einer Sirene, war sie allein gekommen, aber das war sie nicht lange geblieben. Wie eine Flamme war sie gekleidet gewesen, und wie eine Flamme hatte sie sie angelockt. Nicht etwa seine Kumpel — die hatten gewusst, welche Gefahr Dellen Nankervis darstellte: wie sie köderte, die Falle zuschnappen ließ, und was sie dann mit ihrer Beute tat. Also waren sie auf Distanz geblieben. Aber die anderen Gäste nicht. Und Ben hatte zugesehen, bis er es nicht mehr ertragen konnte.