Er hatte ein Glas vor sich; also leerte er es. Irgendjemand drückte ihm eine Pille in die Hand, und er schluckte sie. Ein Joint wurde herumgereicht, also rauchte er. Es war ein Wunder, dass er an der Mischung all dessen, was er sich in jener Nacht eingefahren hatte, nicht gestorben war. Stattdessen hatte er die Zuwendungen eines jeden Mädchens angenommen, das willig gewesen war, mit ihm in einem dunklen Winkel zu verschwinden. An drei erinnerte er sich mit Gewissheit; es mochten mehr gewesen sein. Vollkommen egal. Das Einzige, was gezählt hatte, war, dass Dellen es sah.
Doch dann hatte ein gepresstes »Nimm deine Dreckspfoten von meiner Schwester« dem Spiel ein abruptes Ende gesetzt — Jamie Parsons, der sich in der Rolle des entrüsteten Bruders versuchte. Des Bruders, der bald zur Uni gehen würde, der reich war, der Reisen zu den besten Surfplätzen der Welt gemacht hatte und nun sicherging, dass das auch bestimmt jeder erfuhr. Ausgerechnet dieser Bruder ertappte einen unwürdigen Eingeborenen dabei, wie er seiner Schwester an die Wäsche ging, und diese Schwester lehnte an der Wand, hatte ein Bein um Ben geschlungen und war scharf auf ihn. Sie sei scharf auf ihn, hatte Ben dämlicherweise und lauthals gedröhnt, damit es garantiert ein jeder hörte, nachdem Jamie Parsons sie getrennt hatte, und das war es, was er ihm eigentlich übel nahm.
Ohne jegliches Feingefühl hatte man ihn vor die Tür gesetzt. Seine Kumpel waren ihm auf dem Fuße gefolgt, aber nach allem, was er wusste und je herauszufinden gewagt hatte, war Dellen dort geblieben.
»Scheiße, den Wichser nehmen wir uns vor«, hatten sie befunden, angestachelt von Alkohol, Drogen und ihrem Zorn auf Jamie Parsons.
Und danach? Ben hatte nicht die geringste Ahnung.
Die ganze Nacht ließ er sich die Geschichte durch den Kopf gehen. Er war gegen zehn aus Pengelly Cove zurückgekommen und hatte nichts weiter tun können, als durch das Hotel zu laufen, hatte an Fenstern innegehalten, um auf die rastlose See in der Bucht hinabzuschauen. Im Hotel war es vollkommen still gewesen. Kerra war ausgeflogen, Alan nach Hause gegangen, und Dellen… Sie war weder im Wohnzimmer noch in der Küche gewesen, und weiter hatte er nicht gesucht. Er brauchte Zeit, um seine Erinnerungen zu durchsieben und das, was er wusste, von dem zu trennen, was er sich nur zusammengereimt hatte.
Am Vormittag betrat er schließlich ihr Schlafzimmer. Dellen lag diagonal über dem Bett, in einem tiefen Tablettenschlaf, und atmete schwer. Das Fläschchen mit den Pillen stand offen neben ihr auf dem Nachttisch, wo immer noch die Lampe brannte. Vermutlich war sie die ganze Nacht über angewesen und Dellen zu vernebelt, um sie auszuschalten.
Er setzte sich auf die Bettkante. Seine Frau war immer noch angekleidet wie am Vortag; der rote Schal unter ihrem Kopf sah aus wie eine Blutlache, die Fransen wie verstreute Blütenblätter und Dellens Kopf in der Mitte: das Herzstück der Blume.
Sein Fluch war, dass er sie immer noch liebte. Dass er sie hier und jetzt betrachten konnte, und trotz allem, sogar trotz Santos Ermordung, konnte er sie immer noch wollen, weil sie die Fähigkeit besaß und, so fürchtete er, immer besitzen würde, alles aus seinem Herzen zu tilgen, was nicht Dellen war. Er verstand nicht, wie das möglich sein konnte, welch schreckliche Windung seiner Psyche das hervorrief.
Dann blinzelte sie schwerfällig. In ihrem getrübten Ausdruck, ehe die Erinnerung gänzlich in ihr Bewusstsein zurückkehrte, erkannte er für einen Augenblick die Wahrheit: dass seine Frau ihm das, was er von ihr brauchte, nicht geben konnte, wenngleich er wieder und wieder versuchte, es von ihr zu bekommen.
Sie wandte den Kopf ab. »Lass mich allein«, murmelte sie. »Oder töte mich. Ich kann nicht…«
»Ich habe seine Leiche gesehen«, unterbrach Ben. »Oder… Eigentlich nur sein Gesicht. Sie haben ihn ausgenommen. Das ist es, was sie tun: ihn ausnehmen auch wenn sie ein anderes Wort dafür haben. Darum hatten sie ihn bis zum Kinn mit einem Tuch bedeckt. Ich hätte auch den Rest sehen können, aber das wollte ich nicht. Es war genug, sein Gesicht zu sehen.«
»O Gott…«
»Es war nur eine Formalität. Sie wussten ja bereits, dass es Santo war. Sie hatten seinen Wagen. Und seinen Führerschein. Darum brauchten sie mich eigentlich gar nicht mehr für die Identifizierung. Ich nehme an, ich hätte im letzten Moment die Augen schließen und einfach sagen können, ja, das ist Santo, ohne wirklich hinzusehen.«
Sie hob den Arm und presste sich die Faust vor den Mund. Er wollte nicht darüber nachdenken, warum er sich gezwungen sah, diese Dinge auszusprechen. Doch er fühlte sich genötigt, seiner Frau mehr als nur die antiseptischen Informationen mitzuteilen. Es schien ihm notwendig, sie aus sich selbst hervorzuzerren und sie allein auf ihre Mutterrolle zu reduzieren, auch wenn sie ihm das irgendwann vorwerfen würde. Und er hatte Vorwürfe verdient. Vorwürfe, so dachte er, waren immer noch besser, als dabeizustehen und zuzusehen, wie sie einen anderen Weg einschlug.
Sie kann nichts dafür. Über die Jahre hatte er sich diese Tatsache wieder und wieder ins Gedächtnis gerufen. Sie ist nicht dafür verantwortlich, und sie braucht meine Hilfe. Er wusste längst nicht mehr, ob das die Wahrheit war. Aber jetzt, zu diesem späten Zeitpunkt, etwas anderes zu glauben, hätte bedeutet, ein Vierteljahrhundert seines Lebens als Lüge zu entlarven.
»Ich trage die Schuld an allem, was passiert ist«, fuhr er fort. »Ich war überfordert. Ich wollte mehr, als irgendwer mir je hätte geben können, und als mir das klar wurde, habe ich versucht, es mir mit Gewalt zu nehmen. So war es mit dir und mir. Und so war es mit Santo.«
»Du hättest dich von mir scheiden lassen sollen. Warum in Gottes Namen hast du dich nie scheiden lassen?« Sie fing an zu weinen, drehte sich zur Seite und wandte das Gesicht dem Nachttisch zu, wo ihr Pillenfläschchen stand. Sie streckte die Hand danach aus und wollte sich schon eine weitere Tablette nehmen, als Ben ihr die Flasche wegschnappte.
»Jetzt nicht!«
»Ich muss…«
»Du musst hierbleiben!«
»Ich kann nicht. Gib sie mir! Lass mich das nicht allein durchstehen!«
Das war die Ursache. Die Wurzel allen Übels. Lass mich das nicht allein durchstehen. Ich liebe dich, ich liehe dich… Ich weiß nicht, warum… Mein Kopf fühlt sich an, als würde er zerplatzen, und ich kann nichts dafür… Komm her, mein Liebling. Komm her, komm her.
»Sie haben jemanden aus London hergeschickt.« Er erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie nicht verstand, was er damit auszusagen gedachte. Sie hatte sich von Santos Tod entfernt, wollte sich noch weiter entfernen, aber das durfte er nicht zulassen. »Einen Polizisten«, fuhr er fort. »Von Scotland Yard. Er hat mit meinem Vater gesprochen.«
»Warum?«
»Wenn jemand ermordet wird, nehmen sie alles unter die Lupe. Sie beleuchten jeden Aspekt im Leben sämtlicher Beteiligten. Ist dir klar, was das heißt? Er hat mit Dad gesprochen, und Dad hat ihm alles erzählt, was er weiß.«
»Worüber?«
»Über Pengelly Cove. Und warum ich von dort weggegangen bin.«
»Aber das hat doch nichts damit zu tun…«
»Es ist eine offene Frage, der man nachgehen kann, und genau das tun sie. Sie gehen offenen Fragen nach.«
»Gib mir die Tabletten!«