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»Nein.«

Sie versuchte, sie ihm zu entreißen. Er hielt die Flasche außerhalb ihrer Reichweite. »Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. In Pengelly Cove zu sein, mit Dad zu sprechen… Es ist alles wieder hochgekommen. Diese Party im Cliff House, der Alkohol, die Drogen, das Gefummel im Schatten, und zum Teufel damit, wer es mitbekam, wenn die Dinge ein bisschen weiter gingen… Und die Dinge sind weiter gegangen, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht mehr. Es ist so lange her. Ben. Bitte! Gib mir die Tabletten!«

»Wenn ich das tue, wirst du wieder völlig benebelt sein. Aber ich will, dass du hierbleibst. Du musst etwas von dem fühlen, was ich fühle. Das will ich von dir, denn wenn ich nicht einmal mehr das bekomme…«

Was dann?, fragte er sich. Wenn sie ihm nicht geben konnte, worum er sie jetzt bat, was konnte er dann tun, das er nicht in der Vergangenheit schon erfolglos zu tun versucht hatte? Seine Drohungen waren leer, und das wussten sie beide.

»Der Tod fordert letzten Endes immer einen weiteren Tod, ganz gleich was wir tun«, sprach er weiter. »Ich wollte nicht, dass Santo surft. Ich dachte, das Surfen könnte ihn dorthin führen, wohin es mich gebracht hatte, und ich habe mir eingeredet, das wäre der Grund, warum ich… Aber die Wahrheit ist: Ich wollte ihm das wegnehmen, was den Kern seiner Persönlichkeit ausmachte, weil ich Angst hatte. Es lief alles darauf hinaus, dass ich glaubte, er müsste so leben wie ich. Ich habe praktisch zu ihm gesagt: Lebe wie ein Toter, und dafür werde ich dich lieben. Und die hier…« Er hob das Pillenfläschchen. Dellen versuchte erneut, es ihm aus der Hand zu reißen, also hielt er es höher und stand von der Bettkante auf. »Die hier lassen dich tot erscheinen, jedenfalls für den Rest der Welt. Aber ich will dich in dieser Welt haben.«

»Du weißt genau, was passieren wird. Ich kann es nicht verhindern. Wenn ich es versuche, fühlt es sich an, als würde mein Kopf zerbersten.«

»Und so war es immer schon.«

»Das weißt du doch.«

»Also verschaffst du dir Erleichterung. Mit Tabletten und mit Alkohol. Und wenn du keine Tabletten hast und der Alkohol auch nicht mehr hilft…«

»Gib sie mir!« Jetzt stand auch sie vom Bett auf.

Er wich zurück, ans Fenster, und es war ganz einfach: Er öffnete es und ließ die Beruhigungstabletten hinabrieseln in das schlammige Beet, wo die Frühjahrsbepflanzung vor sich hin kümmerte und nach der Sonne hungerte, die auf sich warten ließ.

Dellen schrie auf. Sie rannte auf Ben zu und ließ die Fäuste auf ihn niederfahren.

Er packte ihre Hände und hielt sie fest. »Ich will, dass du siehst! Und  hörst, und fühlst! Und dich erinnerst! Wenn ich mit all dem hier allein fertig werden muss…«

»Ich hasse dich!«, kreischte sie. »Du willst, du willst! Aber du wirst nie jemanden finden, der dir gibt, was du willst. Ich bin dieser Mensch nicht. Das war ich nie, und trotzdem lässt du mich nicht gehen. Und ich hasse dich. Gott, Gott, wie sehr ich dich hasse!«

Sie riss sich von ihm los, und einen Moment lang glaubte er, sie wollte aus dem Zimmer stürzen und unten im Schlamm nach ihren Tabletten wühlen, die sich vermutlich bereits zersetzten. Doch stattdessen riss sie die Schranktür auf und zerrte Kleidungsstücke daraus hervor. Rot auf Rot, von Karmesin bis Magenta und jeder Ton dazwischen, und sie warf alles auf einen Haufen am Fußboden. Sie suchte nach etwas, was die deutlichste Sprache hatte, wie das leuchtend rote Sommerkleid an jenem Abend vor so langer Zeit.

»Sag mir, was passiert ist«, beschwor er sie. »Ich war mit Parsons' Schwester zusammen. Ich hab alles darangesetzt, sie zu vögeln. Ich war vollauf mit dem beschäftigt, was sie mir zu tun erlaubte, und das war eine ganze Menge. Er hat uns zusammen erwischt und mich rausgeworfen. Nicht weil es ihn kümmerte, dass seine Schwester es mitten auf dem Flur im Haus seiner Eltern auf einer gut besuchten Party besorgt bekam, sondern weil er sich allen anderen überlegen fühlen wollte, und auch das war ein Weg, dieses Gefühl zu erreichen. Es hatte nichts mit Standesunterschieden zu tun. Oder mit Geld. Es hatte allein mit Jamie zu tun. Sag mir, was zwischen euch vorgefallen ist, nachdem ich gegangen bin!«

Sie fuhr fort, ihre Kleidungsstücke auf den Boden zu schleudern. Als sie mit dem Schrank fertig war, machte sie mit der Kommode weiter: Höschen, BHs, Unterröcke, Pullis und Schals. Nur die roten, bis die Kleidung um ihre Füße herum aussah wie Beerenbrei.

»Hast du ihn gevögelt, Dellen? Ich habe dich nie nach Namen gefragt, aber in diesem Fall will ich es wissen. Hast du zu ihm gesagt: "Am Strand gibt es eine Höhle, wo Ben und ich immer hingehen, um es miteinander zu treiben. Ich treffe dich dort"? Er konnte ja nicht wissen, dass du und ich Schluss gemacht hatten. Er muss gedacht haben: Was für eine gute Gelegenheit, es mir heimzuzahlen! Also hat er sich dort mit dir getroffen und…«

»Nein!«

»… hat dich gefickt, so wie du es wolltest. Aber er hatte sich allerhand von den Drogen eingefahren, die es da gab: Gras, Koks und was sonst noch, LSD, Ecstasy und das zusätzlich zu alldem, was er schon getrunken hatte. Und nachdem er getan hatte, was du von ihm wolltest, bist du einfach verschwunden, hast ihn da ohnmächtig in der Höhle liegen lassen, und als die Flut kam, so wie sie's immer tut…«

»Nein!«

»… warst du längst wieder verschwunden. Du hattest gekriegt, was du wolltest, und was du wolltest, war nicht Sex, sondern Rache. Du wusstest, wie Jamie war, und konntest sicher sein, dass er es mir bei der nächstbesten Gelegenheit unter die Nase reiben würde. Nur hast du nicht damit gerechnet, dass die Flut deine Pläne durchkreuzt und…«

»Ich hab's gesagt!«, schrie sie. Es waren keine Kleidungsstücke mehr übrig, die sie zu Boden schleudern konnte, also griff sie nach der Nachttischlampe und schwang sie wie eine Waffe. »Ich hab das alles erzählt. Bist du jetzt zufrieden? War es das, was du von mir hören wolltest?«

Ben war sprachlos. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass ihm überhaupt noch irgendetwas die Sprache verschlagen konnte, aber jetzt fand er einfach keine Worte. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass seine Vergangenheit noch irgendeine Überraschung barg, aber er hatte sich offenbar geirrt.

Bea und Sergeant Havers gingen zu Fuß vom Supermarkt zur Bäckerei Casvelyn of Cornwall hinüber. Dort herrschte Hochbetrieb: Die Warenauslieferung an die Pubs, Hotels, Cafés und Restaurants war in vollem Gange. Die Luft war vom verführerischen Duft nach frisch gebackenem Blätterteig erfüllt. Je weiter sie sich dem Geschäft näherten, umso stärker wurde er, und Bea hörte Barbara Havers murmeln: »Heiliger Bimbam…«

Bea warf ihr einen Seitenblick zu. Havers sah sehnsüchtig zum Schaufenster der Bäckerei hinüber, wo die Tabletts mit den frischen Pasteten lockten ein diätfeindliches Fest aus Cholesterin, Kohlehydraten und Kalorien. »Herrlich, oder?«, bemerkte Bea.

»Auf jeden Fall besser als Poptarts.«

»Jetzt da Sie schon einmal in Cornwall sind, müssen Sie auch eine Pastete probieren. Und hier gibt es die besten!«

»Ich werd's mir merken.« Havers streifte die Backwaren mit einem beinah verzweifelten Blick, während sie Bea in den Laden folgte.

Madlyn Angarrack war gerade dabei, einige Kunden zu bedienen, während Shar Tabletts voller Pasteten aus der Küche trug und in die Auslage bugsierte. Das Angebot schien heute nicht nur Pasteten zu umfassen, denn auf Shars Tabletts lagen auch kunstvolle Brotlaibe mit dicker Rosmarinkruste.

Wenngleich Madlyn zu tun hatte, beabsichtigte Bea doch nicht, sich hinten in der Schlange anzustellen. Sie entschuldigte sich bei der wartenden Kundschaft, indem sie unübersehbar mit ihrem Dienstausweis wedelte, und erklärte: »Tut mir leid. Polizeiliche Ermittlungen.« Und damit drängelte sie sich an ihnen vorbei. An der Kasse angelangt, sagte sie mit einiger Lautstärke: »Ich muss Sie sprechen, Miss Angarrack. Hier oder auf der Wache, das ist mir egal, allerdings muss es jetzt gleich sein.«