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Er hatte noch nicht lange gewartet, als er die Kirchentür hörte. Sie wurde schwungvoll geöffnet und fiel polternd zu, als wäre sie unwillig, auf diejenigen Rücksicht zu nehmen, die womöglich ins Gebet vertieft waren.

Lynley schob sich aus der Bank. Eine hochgewachsene Gestalt kam im dämmrigen Licht auf ihn zu. Der Mann schritt agil aus, und erst als er in den Seitenflügel trat, konnte Lynley ihn im Licht des Fensters richtig erkennen.

Lediglich das Gesicht verriet das Alter des Ankömmlings, denn seine Haltung war kerzengerade und sein Körperbau kräftig. Das Gesicht jedoch war tief gefurcht, die Nase von einem Rhinophym entstellt, das ihr das Aussehen eines Blumenkohls verlieh, der in Rotebetesaft getaucht worden war. Ferrell hatte ihm den Namen dieser potenziellen Informationsquelle über die Kernes verraten: David Wilkie, Chief Inspector im Ruhestand und einstmals bei der Devon and Cornwall Constabulary beschäftigt, die die rätselhaften Todesumstände von Jamie Parsons untersucht hatte.

»Mr. Wilkie?« Lynley stellte sich vor. Er zog seinen Dienstausweis hervor, und Wilkie setzte eine Brille auf, um ihn zu studieren.

»Weit von Ihrem Revier entfernt, was?«, fragte Wilkie. Er klang nicht besonders freundlich. »Wieso interessieren Sie sich für den Parsons-Fall?«

»War es Mord?«, fragte Lynley.

»Wir konnten es nie beweisen. Am Ende hieß es Tod durch Unglücksfall, aber Sie und ich, wir wissen beide genau, was das heißt. Es kann alles Mögliche dahinterstecken, nur beweisen kann man nichts. Also muss man sich darauf verlassen, was die Leute sagen.«

»Darum bin ich zu Ihnen gekommen. Ich habe mit Eddie Kerne gesprochen. Sein Sohn Ben…«

»Mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei, mein Junge. Ich wäre immer noch im Dienst, wenn die Regeln es zuließen.«

»Wollen wir irgendwohin gehen und reden?«

»Sie halten wohl nicht viel auf das Haus Gottes, nein?«

»Derzeit nicht, fürchte ich.«

»Was sind Sie? Ein Schönwetterchrist? Der Herr hat nicht genau das abgeliefert, was Sie wollten, und schon schlagen Sie ihm die Tür vor der Nase zu? So in etwa? Ihr jungen Leute! Pah! Ihr seid doch alle gleich.«

Wilkie fischte ein Taschentuch aus der Tasche seiner wetterfesten Jacke und rieb sich damit erstaunlich behutsam die versehrte Nase. Dann streckte er es Lynley entgegen, der einen Moment lang glaubte, er sollte es ebenfalls benutzen als eine Art bizarrer Kommunion aus den Händen des älteren Mannes. Wilkie klärte ihn jedoch sofort auf. »Sehen Sie sich das an. So weiß wie an dem Tag, als ich es gekauft habe, und ich mache meine Wäsche selbst. Was sagen Sie dazu?«

»Beeindruckend«, erwiderte Lynley. »In der Hinsicht könnte ich Ihnen nicht das Wasser reichen.«

»Ihr Jungspunde könnt mir in keinerlei Hinsicht das Wasser reichen.« Wilkie stopfte das Taschentuch zurück in die Tasche. »Wir reden hier im Hause Gottes oder gar nicht. Außerdem muss ich die Bänke abstauben. Sie warten hier. Ich gehe die Utensilien holen.«

Wilkie, dachte Lynley, war mit Sicherheit nicht gaga. Er hätte Detective Sergeant Ferrell in Newquay mühelos in die Tasche gesteckt.

Als der alte Mann wiederkam, trug er einen Korb bei sich, aus dem er einen Handfeger, ein paar Putzlappen und eine Dose mit Möbelpolitur zog. Letztere öffnete er mit einem Hausschlüssel und fuhr mit einem Lappen hindurch. »Ich verstehe einfach nicht, was aus dem guten alten Kirchgang geworden ist«, eröffnete er Lynley. Er reichte ihm den Handfeger und gab exakte Anweisungen, wie dieser auf und unter den Bänken zum Einsatz gebracht werden sollte. Er werde mit dem Polierlappen folgen, also solle Lynley ja keine Stellen auslassen. Es seien nicht genügend Lappen vorhanden, falls diese hier — er wies auf den Korb — schmutzig würden. Ob Lynley das verstanden habe? Lynley bejahte, was Wilkie ermöglichte, zu seinem vorherigen Gedanken zurückzukehren. »Zu meiner Zeit war die Kirche immer zum Bersten voll. Zwei-, manchmal sogar dreimal am Sonntag und mittwochs zur Abendandacht. Heutzutage sieht man, abgesehen von Weihnachten, keine zwanzig regelmäßigen Besucher in der Kirche. Eine Handvoll zu Ostern vielleicht, aber nur bei schönem Wetter. Ich bin überzeugt, diese Beatles sind daran schuld. Ich erinnere mich noch, dass einer von denen mal behauptet hat, er wäre Jesus. Den hätte man auf der Stelle wegsperren müssen, wenn Sie mich fragen.«

»Aber das ist lange her, oder?«, murmelte Lynley.

»Die Kirche hat sich nie mehr wirklich von diesem Heiden erholt. Nie. All die Wichser mit Haaren bis zum Arsch und singen Satisfaction. Machen Kleinholz aus ihren Instrumenten. Die kosten doch Geld! Aber interessiert sie das? Nein. All das ist gottlos. Kein Wunder, dass niemand mehr kommt, um dem Herrn den geschuldeten Respekt zu erweisen.«

Lynley erwog eine Wiedereröffnung der Gaga-Frage. Außerdem hätte er Havers hier gebraucht, um dem alten Mann eine Nachhilfestunde in der Geschichte des Rock and Roll zu erteilen. Er selbst war in vieler Hinsicht spät entwickelt gewesen, und Rock and Roll gehörte zu den zahlreichen Aspekten der Popkultur vergangener Jahrzehnte, von denen er keine fundierte Kenntnis besaß. Also versuchte er gar nicht erst, sich dazu zu äußern. Er wartete einfach, bis Wilkie das Thema abgearbeitet hatte, und unterdessen zeigte er bewundernswerten Fleiß mit dem Handbesen, soweit das in der Enge der Kirchenbänke und der unzureichenden Beleuchtung in der Kirche möglich war.

Wie er gehofft hatte, endete Wilkie schließlich mit: »Die Welt geht zum Teufel, wenn Sie mich fragen.«

Lynley sah keinen Anlass, ihm zu widersprechen.

»Es waren die Eltern, die den Jungen für den Tod ihres Sohnes im Gefängnis sehen wollten«, begann der alte Mann plötzlich. Sie arbeiteten sich immer noch durch die Reihen. »Benesek Kerne. Die Eltern hatten sich auf ihn eingeschossen und gaben keine Ruhe.«

»Sie meinen die Eltern des toten Jungen?«

»Vor allem der Vater. Er war völlig aus der Bahn geworfen, als sein Junge starb. Jamie war immer sein Augapfel gewesen, und Jon Parsons — das war der Vater — hatte das auch nie zu verheimlichen versucht. Ein Vater sollte ein Lieblingskind haben, sagte er immer, und die anderen Kinder müssten diesem Lieblingskind nacheifern, um das Wohlwollen des Vaters zu erlangen.«

»Also gab es Geschwister?«

»Insgesamt waren es vier. Drei jüngere Mädchen, die kleinste noch nicht aus den Windeln, und der Junge, der ums Leben kam. Die Eltern warteten ab, zu welchem Ergebnis der Coroner kam, und als dieses Ergebnis Tod durch Unglücksfall lautete, wandte der Vater sich an mich. Das war ein paar Wochen später. Der arme Kerl war wie von Sinnen. Er sagte mir, er wisse mit Sicherheit, dass dieser Kerne-Junge dafür verantwortlich wäre. Ich fragte ihn, warum er erst so spät, erst nach Abschluss der Untersuchungen, mit dieser Information zu mir gekommen sei — ich hielt alles, was er sagte, für die Fantastereien eines vor Schmerz wahnsinnigen Vaters, und da sagte er mir, irgendjemand hätte geredet. Und zwar nachdem der Coroner seine Untersuchungsergebnisse verkündet hatte. Und er habe auch selbst Nachforschungen angestellt, sagte er mir. Hat einen Privatermittler engagiert. Und der habe angeblich jemanden gefunden, der geredet hätte.«

»Haben Sie ihm denn geglaubt?«

»Ist das nicht die alles entscheidende Frage? Wer zum Henker konnte denn schon wissen, ob es die Wahrheit war?«

»Dieser Informant. Hat er nie mit Ihnen gesprochen?«

»Nur mit Parsons. Das hat der jedenfalls behauptet. Was völlig unnütz ist, wie Sie und ich wissen, zumal… Was er mehr als alles andere wollte, war eine Verhaftung. Er brauchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte. Und seine Frau genauso. Sie brauchten einen Schuldigen, denn sie glaubten, Beschuldigung, Verhaftung, Gerichtsverhandlung und Urteil würden dazu führen, dass sie sich besser fühlten, was natürlich nicht stimmt. Aber das wollte der Vater nicht hören. Welcher Vater will das schon? Seine eigenen Ermittlungen anzustellen, war das Einzige, was ihn davor bewahrt hat, in den Abgrund zu stürzen. Also war ich gewillt, mit ihm zu kooperieren, ihm zu helfen, diesen Scherbenhaufen hinter sich zu lassen, zu dem sein Leben geworden war. Und ich bat ihn, mir zu sagen, wer sein Informant war. Ich konnte ja schließlich keinen Haftbefehl beantragen nur aufgrund irgendwelcher Anschuldigungen, die ich noch nicht einmal mit eigenen Ohren gehört hatte.«