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»Natürlich nicht«, warf Lynley ein.

»Aber er wollte es mir nicht sagen, was also konnte ich tun, was ich nicht schon getan hätte? Wir haben mit aller Gründlichkeit in der Sache ermittelt, aber glauben Sie mir, wir hatten nichts in der Hand. Der Kerne-Junge hatte kein Alibi außer: "Ich bin die längere Strecke nach Hause gelaufen, um einen klaren Kopf zu kriegen." Aber dafür kann man einen Mann nicht hängen, oder? Trotzdem, ich wollte dem Vater helfen. Also haben wir den Kerne-Jungen erneut aufs Revier geladen, nicht einmal, sondern zigmal. Ich weiß nicht mehr, wie oft. Wir haben jedes Detail in seinem Leben unter die Lupe genommen, und genauso haben wir es mit seinen Freunden getan. Benesek Kerne konnte den Parsons-Jungen nicht ausstehen, das haben wir ziemlich schnell rausgekriegt, aber wie sich herausstellte, konnte niemand ihn leiden.«

»Hatten Beneseks Freunde Alibis?«

»Sie alle haben dieselbe Geschichte erzählt: Nach Hause und ins Bett. Die Geschichte blieb unverändert, und keiner ist je umgefallen. Aus denen war nichts herauszuholen. Entweder hatten sie sich gegenseitig geschworen dichtzuhalten, oder es war tatsächlich die Wahrheit. Und nach meiner Erfahrung ist es so: Wenn eine Gruppe Jugendlicher irgendetwas anstellt, macht früher oder später einer den Mund auf, wenn man nur genug Druck ausübt. Aber in dem Fall hat das keiner getan.«

»Was Sie zu dem Schluss geführt hat, dass sie die Wahrheit sagten?«

»Mir blieb kein anderer Schluss übrig.«

»Was haben sie Ihnen über ihr Verhältnis zu dem toten Jungen erzählt? Was war ihre Geschichte?«

»Sie war ganz einfach. Der Kerne-Junge und Parsons hatten eine Auseinandersetzung an dem Abend, Handgreiflichkeiten. Wegen irgendeiner Sache, die sich während einer Party im Haus der Parsons zugetragen hatte. Kerne ist gegangen und seine Freunde auch. Und angeblich ist auch keiner von ihnen später zurückgegangen, um den Parcksons-Jungen in die tödliche Falle zu locken. Er muss allein zum Strand runtergegangen sein, haben sie gesagt. Ende der Geschichte.«

»Ich habe gehört, er ist in einer Strandhöhle gestorben.«

»Er ist nachts da runtergegangen, die Flut hat eingesetzt und ihn da drinnen überrascht, und er ist nicht mehr rausgekommen. Die Toxikologie hat ergeben, dass er sternhagelvoll war und obendrein auch noch Drogen genommen hatte. Zuerst wurde allgemein vermutet, er wäre mit einem Mädchen da runter, um ein Nümmerchen zu schieben, und entweder vorher oder nachher bewusstlos geworden.«

»Das wurde zuerst vermutet?«

»Die Leiche war ziemlich zerschunden, weil sie sechs Stunden lang in der Höhle herumgeschleudert worden war, während das Wasser stieg und wieder zurückging, aber die Gerichtsmedizin hat Male gefunden, die damit allein nicht erklärt werden konnten, und zwar an Hand- und Fußgelenken.«

»Fesselspuren? Aber keine weiteren Beweise?«

»Kot. In den Ohren. Ziemlich eigenartig, oder? Aber das war alles. Und es gab für nichts auch nur einen einzigen Zeugen. Von A bis Z war es ein Fall von: Er hat gesagt, sie hat gesagt, wir haben gesagt, sie haben gesagt. Klatsch und Tratsch und Anschuldigungen, aber das war auch schon alles. Ohne stichhaltige Beweise, ohne Zeugen, ohne auch nur die geringsten Indizien… Das Einzige, worauf wir hoffen konnten, war, dass irgendjemand einknickte. Und das wäre vielleicht auch passiert, wäre der Parsons-Junge ein anderer gewesen.«

»Und das heißt?«

»Er war wohl ein ziemlicher Wichser, so traurig es auch ist, das zu sagen. Die Familie hatte Geld, darum hielt er sich für was Besseres, und das hat er die anderen gern spüren lassen. Das hat ihn bei der Dorfjugend nicht gerade beliebt gemacht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Aber zu seiner Party sind sie alle gegangen?«

»Gratis Getränke und Drogen, sturmfreie Bude, die Chance, ein bisschen rumzuknutschen. In Pengelly Cove wurde jungen Leuten sonst nicht allzu viel geboten. Die Gelegenheit, ein bisschen Spaß zu haben, hätten sie niemals ausgeschlagen.«

»Und was ist aus ihnen geworden?«

»Aus den übrigen Jungen? Den Freunden von Benesek Kerne? Soweit ich weiß, leben sie immer noch in Pengelly Cove.«

»Und die Parsons?«

»Die Familie als ganze ist nie nach Pengelly Cove zurückgekehrt. Sie stammten aus Exeter, und dorthin sind sie auch wieder zurück. Der Vater hatte eine Immobilienverwaltungsfirma. Die hieß Parsons und… irgendwas. Ich weiß nicht mehr. Parsons selbst kam regelmäßig nach Pengelly, übers Wochenende oder im Urlaub, um weiter zu versuchen, den Fall zu einem Abschluss zu bringen. Aber daraus wurde nichts. Er hatte mehr als einen Privatdetektiv darauf angesetzt. Das Ganze hat ihn ein Vermögen gekostet. Aber falls Benesek Kerne und seine Freunde hinter Jamie Parsons' Tod steckten, hatten sie durch die polizeiliche Ermittlung zumindest eines gelernt: Wenn es keine Beweise und keine Zeugen gibt, muss man nur den Mund halten, dann kann einem nichts passieren.«

»Wie ich hörte, hat er eine Art Gedenkstätte errichten lassen«, bemerkte Lynley.

»Wer? Parsons?« Und als Lynley nickte, fuhr er fort: »Na ja, die Familie hatte das Geld für so was, und wenn es für ihren Seelenfrieden wichtig war, warum nicht.« Wilkie war an der letzten Bank angelangt, und jetzt richtete er sich auf und streckte sich. Lynley tat es ihm gleich. Einen Moment standen sie schweigend in der Mitte der Kirche und betrachteten das Fenster über dem Altar. Als Wilkie wieder das Wort ergriff, sprach er versonnen. Er erweckte den Eindruck, als habe er in den vergangenen Jahren oft über die Sache nachgedacht. »Es hat mir nicht gefallen, den Fall nicht lösen zu können. Ich hatte das Gefühl, der Vater des Jungen würde nie wieder zur Ruhe kommen, wenn wir nicht jemanden präsentierten, der für die Ereignisse verantwortlich gemacht werden konnte. Aber ich glaube…« Er unterbrach sich und kratzte sich im Nacken. Sein Ausdruck deutete darauf hin, dass sein Körper zwar anwesend, sein Geist jedoch an einen anderen Ort, in eine andere Zeit gereist war. »Ich glaube, wenn wirklich diese Jungs dahintergesteckt haben, dann war es bestimmt nicht ihre Absicht, Jamie Parsons sterben zu lassen. Zu der Sorte gehörten sie nicht. Nicht ein Einziger von ihnen.«

»Wenn er nicht sterben sollte, was war dann ihre Absicht?«

Wilkie rieb sich das Gesicht. Seine raue Hand auf den Bartstoppeln klang wie Sandpapier. »Sie wollten es ihm zeigen. Ihm einen Schreck einjagen. Wie gesagt, der Kerl hatte eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst, und er hatte keinerlei Bedenken, ihnen vorzuführen, was er alles besaß und was er alles konnte. All die Dinge, die sie nicht hatten und konnten.«

»Aber wenn sie ihn gefesselt und dort liegen gelassen haben…«

»Sie waren betrunken, allesamt. Und hatten Drogen genommen. Sie locken ihn runter zur Höhle — vielleicht machen sie ihm weis, da unten hätten sie noch mehr Drogen versteckt, und dann fallen sie über ihn her. Sie fesseln ihn an Händen und Füßen und nehmen ihn sich vor. Sagen ihm die Meinung. Werden vielleicht sogar handgreiflich. Beschmieren ihn mit Kot. Und dann binden sie ihn los und lassen ihn da liegen, in dem Glauben, dass er allein nach Hause findet. Nur denken sie nicht daran, wie besoffen und wie stoned er ist, und er wird bewusstlos und… Das war's. Verstehen Sie, die Sache ist… Wie ich schon sagte, es war nicht ein einziges faules Ei unter diesen Jungen. Keiner von ihnen hatte vorher je in irgendwelchen Schwierigkeiten gesteckt. Und das habe ich den Eltern auch gesagt. Sie wollten es nur nicht hören.«