»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Das war das Schlimmste«, antwortete Wilkie. »Parsons hat am Morgen nach der Party die Cops angerufen, um seinen Sohn als vermisst zu melden. Die Kollegen erzählten ihm das Übliche: Vermutlich hat er sich mit einem Mädchen aus dem Dorf eingelassen und schläft jetzt in ihrem Bett oder darunter seinen Rausch aus. Rufen Sie uns wieder an, wenn er in ein, zwei Tagen immer noch nicht aufgetaucht ist, denn vorher interessiert uns die Sache nicht. Unterdessen erzählt ihm eines der Mädchen, also die Schwester des Jungen, von Jamies Auseinandersetzung mit Benesek Kerne, und Parsons kommt zu dem Schluss, dass mehr dahinterstecken muss. Also macht er sich selbst auf die Suche nach seinem Sohn. Und er hat ihn schließlich auch gefunden.« Wilkie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, aber ich nehme an, es kann einen Mann um den Verstand bringen. Das Lieblingskind. Der einzige Sohn. Und niemand wird je dafür zur Verantwortung gezogen. Aber es gibt da einen Namen, einen einzigen Namen, der im Zusammenhang mit den Stunden, die dem Tod des Jungen vorausgegangen sind, immer wieder fällt: Benesek Kerne. Jetzt verstehen Sie sicher, wieso er so auf ihn fixiert war.«
»Wissen Sie, dass Benesek Kernes eigener Sohn ums Leben gekommen ist?«, fragte Lynley. »Er ist beim Klettern in den Klippen abgestürzt. Seine Ausrüstung ist manipuliert worden. Es war Mord.«
Wilkie schüttelte den Kopf. »Das wusste ich nicht«, sagte er. »Was für ein Unglück. Wie alt war der Junge?«
»Achtzehn.«
»Genau wie der Parsons-Junge. Das ist wirklich eine Schande.«
Daidre war in ihren Grundfesten erschüttert. Sie wollte das Leben zurück, das sie bis vergangene Woche geführt hatte, als die einzigen Anforderungen an sie gewesen waren, auf sich selbst aufzupassen und ihren beruflichen Verpflichtungen nachzukommen. Zwar mochte sie infolgedessen allein gewesen sein, aber das war ihr sogar lieber gewesen. Es hatte ihre kleine Existenz sicherer gemacht, und Sicherheit allein zählte. Zumindest war es seit Jahren so gewesen.
Doch jetzt hatte das zuverlässig dahingleitende Gefährt, welches ihr Leben gewesen war, ernstliche Motorprobleme. Und verzweifelt stellte sie sich wieder und wieder die Frage, was sie dagegen tun konnte.
Darum parkte sie den Wagen am Cottage, als sie nach Polcare Cove zurückkam, und ging, ohne auch nur einen Fuß hineinzusetzen, direkt zum Meer hinab. Von dort schlug sie den steinigen, ansteigenden Pfad über die Klippe ein.
Dort draußen verstärkte sich der Wind zunehmend. Das Haar wehte ihr um den Kopf, und die Spitzen peitschten ihr in die Augen, sodass diese zu brennen begannen. Normalerweise nahm sie die Kontaktlinsen heraus, bevor sie auf die Klippe hinauswanderte, und trug stattdessen ihre Brille. Doch als sie am Morgen aufgebrochen war, hatte sie die Brille nicht eingesteckt. Sie hätte den kleinen Umweg am Cottage vorbei gehen und sie holen können, aber am Ende dieses Tages schien eine Kletterpartie hinauf auf die Klippe das Einzige, was sie im Hier und Jetzt verankert halten konnte.
Manchmal geriet man in Situationen, die ein Eingreifen, ein Zurechtrücken erforderten, gestand sie sich ein. Aber diese derzeitige war gewiss keine davon. Sie wollte nicht tun, was von ihr verlangt wurde, aber sie war klug genug zu wissen, dass es hier nicht um ihre eigenen Präferenzen ging.
Ein lautes Motorengeräusch drang zu ihr herauf, nicht lange nachdem sie die Felskuppe erreicht hatte. Sie hatte auf einem Felsvorsprung gesessen, die Möwen beobachtet und die großartigen Bogen bewundert, die sie flogen, während sie nach Landeplätzen in den Rissen und Spalten der Klippe suchten. Aufgestört durch den Motorenlärm, stand sie auf und kehrte auf den Pfad zurück. Ein Motorrad kam die schmale Straße entlanggefahren. Es parkte auf der gekiesten Einfahrt vor ihrem Cottage. Der Fahrer nahm den Helm ab und trat auf die Tür zu.
War das ein Kurierdienst?, fragte sie sich, als sie ihn anklopfen sah. Jemand, der ihr ein Paket brachte oder eine Nachricht aus Bristol? Sie erwartete keine Post, und nach allem, was sie sehen konnte, trug der Fahrer auch nichts bei sich. Vielmehr umrundete er das Cottage, um eine zweite Tür zu finden oder durch ein Fenster zu spähen. Oder Schlimmeres, schoss es Daidre durch den Kopf.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Rufen hatte keinen Zweck; auf diese Distanz hätte man sie nicht hören können. Aber übertriebene Eile war ebenso wenig angebracht. Das Cottage lag ein gutes Stück vom Meer entfernt, und sie befand sich zu weit oberhalb des Sträßchens. Vermutlich war der Motorradfahrer längst weg, bis sie ankam.
Allein der Gedanke, dass jemand in ihr Cottage einbrechen könnte, trieb sie dennoch voran. Ihr Blick glitt zwischen dem Pfad und dem Cottage hin und her, und die Tatsache, dass das Motorrad immer noch in ihrer Einfahrt stand, spornte sie an und machte sie neugierig.
Atemlos erreichte sie schließlich das Tor und stieß es auf. Statt eines Einbrechers, der gerade durchs Fenster steigen wollte, fand sie ein junges Mädchen in Ledermontur auf ihrer Eingangsstufe vor. Es lehnte mit dem Rücken gegen die leuchtend blaue Tür und hatte die Beine von sich gestreckt. Es trug einen Silberring in der Nasenscheidewand und hatte ein Stachelband um den Hals tätowiert. Cilla Cormack, erinnerte sich Daidre. Der Fluch im Leben ihrer Mutter. Cillas Großmutter wohnte neben Daidres Familie in Falmouth. Was in aller Welt tat sie hier?
Als Daidre näher trat, sah Cilla auf. Die milchige Sonne fiel auf ihren Nasenring und verlieh ihm das unschöne Funkeln eines jener Ringe, die man früher Rindern durch die Nase gezogen hatte, um sie gefügig zu machen, wenn man sie an der Leine führte. »Hey«, sagte sie und nickte Daidre zu. Dann stand sie auf und stampfte mit den Füßen auf, als wären sie eingeschlafen.
»Das ist aber eine Überraschung«, erwiderte Daidre. »Wie geht es dir, Cilla? Wie geht's deiner Mum?«
»Blöde Kuh«, bemerkte Cilla, und Daidre ahnte, dass die Auseinandersetzungen der beiden Frauen, die in der Nachbarschaft immer schon geradezu legendär gewesen waren, noch immer schwelten. »Kann ich bei Ihnen mal aufs Klo?«
»Natürlich.« Daidre schloss die Haustür auf und führte das Mädchen hinein. Cilla polterte in ihren Stiefeln durch die kleine Diele und ins Wohnzimmer. »Da drüben«, wies Daidre ihr den Weg. Sie war gespannt, was als Nächstes passieren würde, denn Cilla war wohl kaum den ganzen Weg von Falmouth hierhergekommen, um ihre Toilette zu benutzen.
Nach einigen Minuten in denen Daidre durchgängig Wasser plätschern hörte, sodass sie sich zu fragen begann, ob das Mädchen vielleicht beschlossen hatte, ein Bad zu nehmen, kam Cilla zurück. Ihr Haar war nass und zurückgekämmt, und ihr Duft verriet, dass sie sich an Daidres Parfüm bedient hatte. »Schon besser«, sagte sie. »Ich hab mich furchtbar gefühlt. Die Straßen hier sind ja der Hammer!«
»Ah«, ging Daidre darüber hinweg. »Möchtest du… irgendetwas? Tee? Kaffee?«
»'ne Kippe vielleicht?«
»Ich rauche nicht, tut mir leid.«
»Hätt ich mir denken können.« Cilla sah sich um und nickte. »Nett hier. Aber Sie wohnen hier nicht immer, oder?«
»Nein. Cilla, ist irgendetwas…?«
Daidre unterbrach sich. Sie war zu wohlerzogen, als dass sie ihre Besucherin einfach geradeheraus hätte fragen können, was zum Henker es mit ihrem Besuch auf sich hatte. Andererseits war es undenkbar, dass das Mädchen einfach nur zufällig vorbeigekommen war. Daidre lächelte gezwungen und versuchte, ermunternd auszusehen.
Cilla war nicht eben das hellste Licht im Kronleuchter, trotzdem verstand sie die nonverbale Botschaft. »Meine Gran hat mich gebeten, zu Ihnen zu fahren«, erklärte sie. »Sie sagt, Sie hätten kein Handy.«