Daidre war erschrocken. »Ist etwas passiert? Was ist los? Ist jemand krank?«
»Gran sagt, Scotland Yard war bei ihr. Und das sollten Sie erfahren, am besten gleich, denn die Bullen haben ihr Fragen über Sie gestellt. Erst haben sie bei Ihren Eltern geklingelt, aber als da keiner aufmachte, sind sie von Tür zu Tür. Gran hat sofort in Bristol angerufen, um es Ihnen zu sagen. Aber da waren Sie nicht, und da hat sie sich gedacht, Sie sind bestimmt hier, und hat mich gefragt, ob ich hier vorbeifahren könnte, um es Ihnen zu sagen. Warum kaufen Sie sich kein Handy? Das wär nicht blöd, wissen Sie. Ich meine, zum Beispiel im Notfall. Denn es ist verdammt weit von Falmouth hierher. Und Benzin… Wissen Sie eigentlich, wie teuer Benzin heutzutage ist?«
Das Mädchen klang verdrossen. Daidre ging hinüber ins Esszimmer und zauberte zwanzig Pfund aus dem Sideboard hervor, die sie Cilla reichte. »Danke, dass du extra hergekommen bist«, sagte sie. »Das war ein weiter Weg.«
Cillas Miene hellte sich auf. »Na ja. Gran hat mich drum gebeten. Und sie ist in Ordnung. Sie lässt mich immer bei sich pennen, wenn Mum mich mal wieder rausschmeißt, was ungefähr einmal die Woche passiert. Deswegen… Als sie mich gebeten hat und gesagt hat, es ist wichtig…« Sie zuckte die Achseln. »Wie auch immer. Hier bin ich. Sie hat gesagt, Sie müssten das erfahren. Und sie hat auch noch gesagt…«
Cilla runzelte die Stirn, als hätte sie Mühe, sich an den Wortlaut der restlichen Nachricht zu erinnern. Daidre war verwundert, dass die Großmutter sie nicht aufgeschrieben hatte. Aber vermutlich hatte sie befürchtet, dass Cilla den Zettel verlieren würde, wohingegen man ihr eine kurze mündliche Botschaft durchaus anvertrauen konnte.
»Ach ja. Sie hat noch gesagt, Sie soll'n sich keine Sorgen machen, sie hat denen nichts verraten.« Cilla berührte ihren Nasenring, als wollte sie sich vergewissern, dass er sich noch an Ort und Stelle befand. »Warum schnüffelt Scotland Yard in Ihrem Leben rum?«, fragte sie nun. Und grinsend fügte sie hinzu: »Was haben Sie denn angestellt? Leichen im Garten vergraben oder so?«
Daidre lächelte schwach. »Sechs oder sieben«, gab sie zurück.
»Dacht ich's mir doch.« Cilla legte den Kopf schräg. »Sie sind ziemlich blass. Setzen Sie sich lieber hin, und den Kopf…« Sie schien vergessen zu haben, was man in einem solchen Fall mit dem Kopf tat. »Wollen Sie 'n Glas Wasser?«
»Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich hab heute noch nichts Richtiges gegessen. Bist du sicher, dass du nichts trinken möchtest?«
»Ich muss wieder los«, antwortete sie. »Ich hab heute Abend 'ne Verabredung. Mein Freund und ich, wir gehen tanzen.«
»Wie nett.«
»Ja. Wir machen einen Kurs. Klingt blöd, irgendwie, aber wenigstens unternehmen wir so auch mal was zusammen. Wir lernen gerade, wie das Mädchen durch die Gegend geworfen wird. Dafür muss man einen ganz steifen Rücken machen. Nase in die Luft strecken. So was in der Art. Und ich muss hochhackige Schuhe anziehen, was ich eigentlich nicht ausstehen kann, aber die Tanzlehrerin sagt, wir sind schon richtig gut. Sie will uns für irgend so einen Wettbewerb anmelden. Bruce — das ist mein Freund — ist total stolz deswegen und sagt, wir müssten ab sofort jeden Tag trainieren. Darum gehen wir auch heute Abend wieder aus. Meist üben wir bei seiner Mum im Wohnzimmer, aber er sagt, wir sind so weit, dass wir uns jetzt in der Öffentlichkeit zeigen können.«
»Das klingt großartig«, sagte Daidre. Sie wartete, ob noch mehr kommen würde, hoffte jedoch inständig, dass Cilla sich alsbald verabschiedete, damit sie sich endlich mit der Nachricht befassen konnte, die das Mädchen ihr überbracht hatte. Scotland Yard in Falmouth. Polizeibeamte, die Fragen stellten. Sie fühlte, dass die Beunruhigung ihr wie Gänsehaut die Arme heraufkroch.
»Also dann. Ich muss los«, sagte Cilla, als hätte sie Daidres Gedanken erraten. »Denken Sie mal drüber nach, sich hier ein Telefon anzuschaffen, okay? Sie können's ja im Schrank verstecken oder so. Und nur einstöpseln, wenn Sie wollen.«
»Ja. Ja, das mach ich«, versprach Daidre. »Vielen Dank, dass du den weiten Weg hierhergekommen bist, Cilla.«
Das Mädchen verabschiedete sich, und Daidre stand auf der Eingangsstufe und sah zu, während Cilla gekonnt den Kickstarter des Motorrads betätigte — eine Fahrerin wie sie brauchte keinen Elektrockstarter — und wie sie dann die Maschine in der Einfahrt drehte.
Sie verschwand mit einem Winken, brauste das enge Sträßchen hinauf, verschwand hinter einer Kurve und ließ Daidre mit ihren Gedanken allein zurück.
Scotland Yard, dachte sie. Beamte, die Fragen gestellt hatten. Es konnte nur einen Grund — einen Menschen geben, der dahintersteckte.
20
Kerra hatte eine schlaflose Nacht verbracht, und auch der darauffolgende Tag war bislang großteils ungenutzt verstrichen. Sie hatte zwar versucht, so gut wie möglich weiterzumachen, und sogar die Termine für die Vorstellungsgespräche eingehalten, die sie im Laufe der vergangenen Wochen mit einigen potenziellen Kursleitern vereinbart hatte. Sie hatte gehofft, sie könnte sich wenigstens mit der tröstlichen Illusion ablenken, dass Adventures Unlimited in naher Zukunft seine Türen öffnete. Aber der Plan war nicht aufgegangen.
Hier ist es. Dieser schlichte Satz, der Pfeil zu der großen Strandhöhle, die auf der Postkarte abgebildet war, und die Implikation, dass Unterhaltungen stattgefunden hatten zwischen der Verfasserin und dem Leser dieser Worte, die nichts mit der Geschäftsbeziehung zu tun hatten, die hinter, unter und jenseits dieser Unterhaltungen lag… Diese beunruhigenden und turbulenten Gedanken hatten Kerras Tag und die schlaflose Nacht zuvor bestimmt.
Die Postkarte steckte nun schon seit Stunden in ihrer Tasche und schien ein kleines rechteckiges Mal in ihre Haut zu brennen. Immer wenn sie sich bewegte, fühlte sie es, und es schien sie zu verhöhnen. Früher oder später würde sie irgendetwas unternehmen müssen. Dieses dumpfe Brennen gemahnte sie unablässig daran.
Obwohl sie es an diesem Tag nur zu gern getan hätte, hatte Kerra Alan nicht ausweichen können. Das Marketingbüro lag nun einmal nicht weit von ihrem eigenen Kämmerchen entfernt, und da sie die Bewerber um die Kursleiterpositionen einen nach dem anderen in die Lounge im ersten Stock geführt hatte, statt die Vorstellungsgespräche in besagtem Kämmerchen zu führen, hatten die Begrüßungen stets in unmittelbarer Nähe des Marketingbüros stattfinden müssen. Mehr als einmal war Alan herausgekommen, um sie zu beobachten, und Kerra hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, was diese Beobachtung und sein Schweigen implizierten.
Es war mehr als nur die Missbilligung ihrer Kandidaten gewesen — ausnahmslos junge Frauen. Er hatte seine diesbezügliche Meinung bereits zu einem früheren Zeitpunkt zum Ausdruck gebracht, und Alan war keiner von der Sorte, die ihren Standpunkt wieder und wieder betonten, wenn ihr Gegenüber ihrer Meinung nach auf stur geschaltet hatte. Vielmehr hatten ihr seine stummen Blicke gesagt, dass Busy Lizzie ihm von Kerras Besuch im Pink Cottage berichtet hatte. Wahrscheinlich hatte sie auch Kerras Vorwand erwähnt, einen persönlichen Gegenstand in Alans Zimmer suchen zu müssen, und nun fragte er sich natürlich, warum Kerra ihm selbst nichts davon erzählt hatte. Hätte er sich die Mühe gemacht zu fragen, hätte sie eine Antwort parat gehabt. Aber er hatte lediglich geschwiegen und beobachtet.
Sie fragte sich, wo ihr Vater steckte. Sie hatte ihn vor ein paar Stunden das Haus verlassen und Richtung St. Mevan Beach gehen sehen, und soweit sie wusste, war er noch nicht wieder zurückgekommen. Zuerst hatte sie angenommen, er wollte den Surfern zuschauen, denn die Wellen waren gut und der Wind ablandig, und sie hatte die stetige Karawane von Surfern mit eigenen Augen in Richtung Strand ziehen sehen. Hätten die Dinge anders gelegen, wäre womöglich auch ihr Bruder Santo dabei gewesen, er hätte sich vielleicht gerade jetzt in die Schlange eingereiht, um zu warten, bis er an der Reihe war. Und auch ihr Vater hätte dort sein können. Ihr Vater und ihr Bruder zusammen. Aber die Dinge waren nun mal nicht anders, und sie würden es auch nie mehr werden. Und genau das schien das Übel ihrer Familie zu sein.