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»Ich wollte dir keine Mühe machen.«

»Kerra.« Er atmete einmal tief und hörbar ein und wieder aus. Dann ließ er die Hände auf die Knie fallen. »Was in Gottes Namen ist hier eigentlich los?«

»Wie bitte?« Sie schaffte es erneut, verschmitzt zu wirken. »Vielleicht liegt es daran, dass mein Bruder ermordet worden ist? Ist das nicht Grund genug dafür, dass die Dinge vielleicht nicht ganz so laufen, wie du es gern hättest?«

»Du weißt genau, was ich meine. Da ist die Sache mit Santo, und Gott weiß, das ist ein Albtraum. Eine schreckliche Tragödie.«

»Nett von dir, Letzteres noch hinzuzufügen.«

»Aber darüber hinaus ist irgendetwas mit dir und mir geschehen, und ob du es nun zugeben willst oder nicht, es hat an dem Tag begonnen, als das mit Santo passierte.«

»Das, was Santo passierte, war Mord«, erwiderte Kerra. »Warum kannst du es nicht aussprechen, Alan? Wieso kannst du nicht Mord sagen?«

»Aus dem offensichtlichen Grund. Weil ich nicht will, dass du dich noch schlechter fühlst, als es bereits der Fall ist. Niemand sollte sich noch schlechter fühlen, als es bereits der Fall ist.«

»Niemand?«

»Du nicht, dein Vater nicht, deine Mutter nicht. Kerra…«

Sie stand auf. Die Postkarte versengte ihr die Haut. Sie zwang Kerra geradezu, sie aus der Tasche zu ziehen und Alan entgegenzufeuern.  Hier ist es erforderte eine Erklärung. Doch die Erklärung existierte ja bereits. Nur deren Konfrontation stand noch aus.

Kerra wusste, wer ihr Gegenpart in dieser Konfrontation sein musste, und es handelte sich hierbei nicht um Alan. Also entschuldigte sie sich knapp, verließ das Büro und nahm die Treppe statt den Aufzug.

Ohne anzuklopfen, betrat sie das Schlafzimmer ihrer Eltern, die Postkarte in der Hand. Irgendwann im Laufe des Vormittages waren die Vorhänge geöffnet worden, sodass man Staubflocken in einem Rechteck aus schwachem Frühlingslicht tanzen sah. Aber niemand war auf die Idee gekommen, das Fenster zu öffnen, um die widerwärtig schlechte Luft herauszulassen. Es roch nach Schweiß und Sex.

Kerra hasste diesen Geruch: für das, was er über ihre Eltern aussagte, für den Würgegriff, in dem sie einander umklammert hielten. Sie durchschritt den Raum und stieß das Fenster auf, so weit es ging. Kalte Luft strömte herein.

Als sie sich umwandte, sah sie, dass das Bett ihrer Eltern zerwühlt und die Laken fleckig waren. Einige Kleidungsstücke ihres Vaters lagen in einem Häuflein auf dem Boden, als hätte sein Körper sich aufgelöst und einzig diese Spur hinterlassen. Dellen war auf den ersten Blick nicht zu sehen, bis Kerra um das Bett herumging und ihre Mutter auf einer dicken Schicht ihrer eigenen Kleidungsstücke auf dem Fußboden vorfand. Ihre Kleidung… Sie war rot. Alles war rot. Dellen hatte jedes einzelne rote Teil, das sie besaß, auf dem Boden verstreut.

Für einen Augenblick fühlte Kerra sich erneuert, während sie so auf sie hinabblickte: eine einzige Blüte, hervorgegangen aus der Knolle, endlich befreit von Erde und Stängel. Doch dann bewegten sich Dellens Lippen, die Zunge kam hervor, als wollte sie die Luft küssen. Ihre Hand öffnete und schloss sich wieder. Ihr Becken bewegte sich, lag wieder still. Ihre Lider flatterten. Sie seufzte.

Als Kerra dies sah, fragte sie sich zum ersten Mal, wie es wohl tatsächlich war, diese Frau zu sein. Aber sie wollte diesen Gedanken nicht weiterverfolgen, also hob sie den Fuß und kickte Dellens rechtes Bein unsanft vom linken hinunter. »Wach auf!«, befahl sie. »Wir müssen reden.« Sie betrachtete das Bild auf der Postkarte, um die Kräfte zu sammeln, die sie brauchen würde. Hier ist es, verkündete die rote Handschrift ihrer Mutter. O ja, dachte Kerra. Hier waren sie nun in der Tat. »Wach auf«, wiederholte sie lauter. »Steh vom Boden auf!«

Dellen öffnete die Augen. Für einen Moment schien sie verwirrt, bis sie Kerra erkannte. Dann raffte sie die Kleidungsstücke an sich, die ihrer rechten Hand am nächsten lagen. Sie presste sie sich an die Brust und legte dabei eine Schere und ein Tranchiermesser frei. Kerra sah von ihrer Mutter zurück zu den Kleidungsstücken auf dem Boden. Erst da erkannte sie, dass die Sachen allesamt zerschnitten, zerfetzt und völlig unbrauchbar gemacht worden waren.

»Ich hätte sie gegen mich selbst richten sollen«, flüsterte Dellen dumpf. »Aber ich konnte es nicht. Wärt ihr nicht glücklich gewesen, wenn ich es getan hätte? Du und dein Vater? Glücklich? O Gott, ich will sterben. Warum hilft mir denn niemand zu sterben?« Sie begann zu weinen, ohne Tränen zu weinen, und klaubte immer mehr der zerschnittenen Kleidungsstücke an sich heran, bis diese ein riesiges Kissen bildeten.

Kerra wusste, was das in ihr auslösen sollte: Schuldgefühle. Sie wusste auch, wozu sie ebendiese verleiten sollten: Vergebung. Sie sollte vergeben, vergeben und immer nur vergeben, bis sie irgendwann nur noch daraus bestand. Kerra, Inkarnation der Vergebung. Und verstehen: verstehen, bis nichts mehr von ihr übrig war als ein immerwährendes Ringen um Verständnis.

»Hilf mir!« Dellen streckte eine Hand aus, nur um sich gleich wieder zurück auf den Boden fallen zu lassen. Die Geste verursachte fast keinen Laut, und so sinnlos erschien sie auch.

Kerra stopfte die Postkarte zurück in die Tasche. Dann packte sie ihre Mutter am Arm und zerrte sie hoch. »Steh auf!«, befahl sie wieder. »Du brauchst ein Bad.«

»Ich kann nicht«, antwortete Dellen. »Ich versinke. Ich werde bald verschwunden sein, lange bevor ich…« Und dann ein kleiner, gerissener Richtungswechsel, als hätte sie in Kerras Gesicht einen Hauch von Brüchigkeit gelesen und wüsste, dass sie sich davor hüten musste. »Er hat meine Tabletten aus dem Fenster geworfen. Er hatte mich heute Morgen… Kerra, er… Er hat mich praktisch vergewaltigt. Und dann hat er… und dann hat er… dann hat er meine Tabletten weggeworfen.«

Kerra kniff die Augen zusammen. Sie wollte nicht über die Ehe ihrer Eltern nachdenken. Sie wollte ihrer Mutter lediglich die Wahrheit abringen, aber sie selbst musste den Kurs dieser Wahrheit bestimmen. »Hoch mit dir«, sagte sie. »Komm schon. Komm! Du musst aufstehen!«

»Warum hört mir denn keiner zu? Ich kann so nicht weitermachen. In meinem Innern ist ein so bodenloser Abgrund… Warum hilft mir denn keiner? Du? Dein Vater? Ich will sterben!«

Ihre Mutter war schlaff wie ein Sandsack, und es kostete Kerra unendlich viel Kraft, sie aufs Bett zu hieven. Dort blieb Dellen liegen. »Ich habe mein Kind verloren.« Ihre Stimme brach. »Warum versteht mich denn keiner?«

»Jeder versteht dich.« Kerra fühlte sich innerlich schrumpfen, als würde sie gleichzeitig niedergedrückt und verbrannt. Bald würde nichts mehr von ihr übrig sein. Nur Reden konnte sie noch retten. »Jeder weiß, dass du ihn verloren hast. Aber alle anderen haben Santo auch verloren.«

»Aber ich bin seine Mutter, Kerra, und nur eine Mutter…«

»Bitte.« Irgendetwas in Kerra zerbrach. Sie packte Dellen und zerrte sie hoch, zwang sie, sich auf die Bettkante zu setzen. »Jetzt ist Schluss mit dem Theater!«

»Theater?« Dellens Stimmung schlug um, wie so oft in der Vergangenheit, unvorhersehbar wie eine seismische Erschütterung. »Du nennst das hier ein Theater?«, empörte sie sich. »So reagierst du auf die Ermordung deines eigenen Bruders? Was ist nur los mit dir? Hast du überhaupt keine Gefühle? Mein Gott, Kerra! Wessen Tochter bist du eigentlich?«

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass du dir diese Frage schon gelegentlich gestellt hast«, erwiderte Kerra. »Du hast die Wochen und Monate zurückgerechnet und gerätselt: Wem sieht sie ähnlich? Von wem ist sie? Wen kann ich als ihren Vater ausgeben, und das ist die kritische Frage, stimmt's nicht, Dellen? Wird er mir glauben? Oh, vielleicht, wenn ich jammervoll genug aussehe. Oder erfreut genug oder glücklich genug. Oder wie auch immer man aussehen muss, wenn man irgendeinen Schlamassel erklären will, den man angerichtet hat.«