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Dellens Augen hatten sich verdunkelt. Sie schien vor Kerra zurückzuzucken und fragte: »Wie kannst du nur sagen…?« Sie hob die Hände und verdeckte das Gesicht in einer Geste, die Kerra wohl für Entsetzen halten sollte.

Es war an der Zeit. Kerra zog die Postkarte aus der Tasche. »Oh, hör auf damit!«, sagte sie, stieß die Hände ihrer Mutter weg und hielt ihr die Postkarte vors Gesicht. Sie legte ihr eine Hand in den Nacken, damit Dellen diesem Gespräch nicht entfliehen konnte. »Sieh mal, was ich gefunden habe. Hier ist es, Mum? Hier ist es? Was genau? Was ist  es?«

»Wovon redest du? Kerra, ich habe keine…«

»Was? Du hast keine Ahnung, was ich da in der Hand halte? Du erkennst das Foto auf dieser Karte nicht? Du erkennst deine eigene verdammte Handschrift nicht? Oder ist es das hier: Du hast überhaupt keine Ahnung, woher diese Karte kommt, und falls du es doch weißt — denn uns beiden ist ja wohl sonnenklar, dass du es weißt, — dann kannst du dir einfach nicht erklären, wie sie in meine Hände gekommen ist? Also, was genau ist es, Mum? Antworte! Was?«

»Es ist nichts. Es ist nur eine Postkarte, Herrgott noch mal. Du benimmst dich wie…«

»Wie eine Frau, deren Mutter den Mann gefickt hat, den die Tochter heiraten wollte!«, schrie Kerra. »In dieser Höhle, wo du all die anderen auch gefickt hast.«

»Wie kannst du nur…«

»Weil ich es weiß! Weil ich dich beobachtet habe! Weil ich die Geschichte wieder und wieder mit angesehen habe! Dellen in Nöten, und wer sonst könnte ihr helfen, als einzig und allein ein williger Mann, ganz gleich welchen Alters, denn das war dir schon immer scheißegal, oder? Du musstest ihn einfach nur haben, ganz gleich wer er war, ganz gleich wem er gehörte… Denn was du wolltest, war immer wichtiger als…« Kerra spürte, dass ihre Hände zitterten. Sie drückte ihrer Mutter die Karte ins Gesicht. »Ich sollte dich… Gott! Gott, ich sollte dich…«

»Nein!« Dellen wand sich unter ihr. »Du bist ja verrückt!«

»Nicht einmal Santo kann dich aufhalten. Santo ist tot, und nicht einmal das kann dich aufhalten. Und ich hab noch gedacht: Das wird sie endlich aufrütteln. Aber das ist nicht passiert, oder? Santos Tod — Santos Ermordung — hat nicht den leisesten Eindruck bei dir hinterlassen. Nicht die geringste Ablenkung von deinen Plänen.«

»Nein!«

Dellen begann, sich zu wehren, schlug die Krallen in Kerras Hände und Finger. Sie trat und wollte sich wegrollen, aber Kerra war zu stark. Also fing sie an zu schreien.

»Du hast es getan! Du! Du!« Dellen packte ihre Tochter an den Haaren und versuchte, ihr mit den Fingern in die Augen zu stechen. Sie zerrte Kerra zu sich herab. Sie rollten auf dem Bett umher, suchten in dem Wirrwarr aus Laken und Decken Halt. Beide kreischten. Arme schlugen wild hin und her, Beine traten, Hände packten zu. Und fanden. Und verloren. Packten wieder zu, schlugen und zerrten, während Dellen immerfort schrie: »Du! Du! Du hast es getan!«

Die Schlafzimmertür flog krachend auf. Schritte eilten herbei. Kerra spürte, wie sie emporgezogen wurde, und hörte dann Alans Stimme an ihrem Ohr: »Ruhig«, sagte er. »Ganz ruhig. Ruhig! Jesus. Kerra, was tust du denn?«

»Zwing sie, es zu sagen!«, schrie Dellen. Sie hatte sich auf die Seite fallen lassen. »Zwing sie, dir alles zu sagen! Was sie Santo angetan hat. Zwing sie, dir von ihm zu erzählen. Santo!«

Alan hielt Kerra mit einem Arm umschlungen und bewegte sich in Richtung Tür.

»Lass mich los!«, schrie Kerra. »Sie soll die Wahrheit sagen!«

»Du kommst jetzt mit!«, befahl Alan stattdessen. »Es wird Zeit, dass du und ich mal ein offenes Wort miteinander reden.«

Als Bea Hannaford und Barbara Havers auf dem Gelände des einstigen Luftwaffenlandeplatzes hielten, parkten dort gleich beide Fahrzeuge, die möglicherweise am Tag von Santo Kernes Tod in der Nähe der Unglücksstelle gesehen worden waren. Ein kurzer Blick durch die Autofenster verriet ihnen, dass Lew Angarrack eine Surfausrüstung und ein kurzes Brett in seinem RAV4 spazieren fuhr. Jago Reeths Defender hingegen war, soweit sie sehen konnten, leer. Die Karosserie war mit Rostflecken übersät — die salzige Seeluft war Gift für den Autolack, aber davon abgesehen war der Wagen erstaunlich sauber, zumindest für ein Fahrzeug, das rund um die Uhr und bei Wind und Wetter draußen stehen musste. Nur die Fußmatten waren sowohl auf der Fahrer- als auch auf der Beifahrerseite mit genug getrocknetem Schlamm übersät, um ihr Interesse zu wecken. Allerdings war Schlamm zwischen Spätherbst und Frühsommer ein eher unvermeidlicher und allgegenwärtiger Bestandteil des Lebens an der Küste, also besagten die Spuren im Defender nicht annähernd so viel, wie Bea es sich gewünscht hätte.

Da Daidre Trahair sich Gott weiß wohin verdrückt hatte, schien ein neuerlicher Besuch in der Surfbrettwerkstatt der folgerichtige nächste Schritt. Jeder Spur musste nachgegangen werden, und sowohl Jago Reeth als auch Lewis Angarrack würden erklären müssen, was sie während Santo Kernes Sturz in unmittelbarer Nähe verloren gehabt hatten, auch wenn Bea es derzeit vorgezogen hätte, Daidre Trahair in die Mangel zu nehmen, ganz wie sie es verdiente.

Unterwegs zu LiquidEarth hatte sie einen Anruf von Thomas Lynley bekommen. Er war von Newquay nach Zennor gefahren und jetzt auf dem Weg nach Pengelly Cove. Möglicherweise habe er etwas für sie, hatte er gesagt. Aber dieses Etwas erfordere weitere Nachforschungen in der Gegend, aus der die Kernes stammten. Er klang übertrieben erregt.

»Und was ist mit Dr. Trahair?«, hatte sie scharf gefragt.

Er habe sie noch nicht wieder gesehen, antwortete er. Aber damit habe er auch nicht gerechnet. Er habe nicht gerade Ausschau nach ihr gehalten, wenn er ehrlich sein solle. Er sei in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Diese neuen Erkenntnisse über die Kernes…

Doch Bea hatte nichts über die Kernes hören wollen, neue Erkenntnisse hin oder her. Sie traute Thomas Lynley nicht, und diese Tatsache machte sie wütend, denn sie wollte ihm trauen. Sie wollte ihm trauen können. Sie musste jedem trauen können, der an den Ermittlungen in der Mordsache Santo Kerne beteiligt war, und der Umstand, dass sie in Lynleys Fall nicht dazu imstande war, verleitete sie dazu, ihn alsbald abzufertigen. »Sollten Sie unterwegs zufällig die schöne, abgängige Dr. Trahair sehen, bringen Sie sie mir! Ist das klar?«

Völlig klar, versicherte Lynley.

»Und wenn Sie sich schon in den Kopf gesetzt haben, die Kernes genauer unter die Lupe zu nehmen, dann vergessen Sie nicht, dass auch Daidre Trahair Teil von Santos Geschichte ist.«

Sofern Madlyn Angarrack glaubwürdig sei, schränkte er ein. Denn eine verschmähte Frau…

»O ja. Wie wahr«, war sie ungeduldig dazwischengegangen. Aber Bea wusste: Was er sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Madlyn Angarrack hatte auch keine reinere Weste als alle anderen.

Als sie die Werkstatt betraten, stellte Bea ihrer Begleiterin Jago Reeth vor, der gerade die raue Kante aus Fiberglas und Harz an den Rails eines Swallowtail-Boards abschliff, das auf zwei Holzböcken lag. Die Querbalken waren dick gepolstert, um die Lackierung des Bretts zu schonen, und Jago ging behutsam mit dem Schleifpapier zu Werke. Ein riesiger Schrank stand geöffnet daneben. Daraus schien Wärme zu entströmen, obwohl er nur mit weiteren Brettern bestückt war, die anscheinend darauf warteten, ebenfalls von Jago bearbeitet zu werden. LiquidEarth schien eine einträgliche Vorsaison zu haben, und nach dem Lärm aus dem Nebenraum zu urteilen, waren die Auftragsbücher auch weiterhin gefüllt.

Wie zuvor schon trug Jago einen weißen Wegwerfoverall. Der Overall machte den Großteil des Staubs, der seinen Körper bedeckte, unsichtbar, nicht aber den auf Gesicht und Haaren. Alles an ihm war weiß, sogar die Finger, und die Nagelhäutchen standen aus der weißen Schicht hervor wie das zehnfache körperlose Grinsen einer Cheshire-Katze.