Jago Reeth fragte Bea, ob sie dieses Mal Lew oder ihn sprechen wolle. Beide, antwortete sie, aber ihre Unterhaltung mit Mr. Angarrack könne ruhig noch ein bisschen warten. So verschaffte sie sich Gelegenheit, mit Jago allein zu sprechen.
Es schien dem alten Knaben nichts auszumachen, dass die Polizei ihn erneut sprechen wollte, allein oder in Anwesenheit seines Chefs. Er merkte allerdings an, er sei der Ansicht, er hätte ihnen bereits alles gesagt, was er über die Geschichte mit Santo und Madlyn wusste, doch Bea erwiderte freundlich, die Entscheidung wolle sie lieber selbst treffen. Er warf ihr einen skeptischen Blick zu, bat dann aber lediglich darum, mit seiner Schleifarbeit fortfahren zu dürfen, wenn es sie nicht störe.
Kein Problem, versicherte Bea, als das heulende Geräusch aus der Nachbarwerkstatt verstummte. Bea glaubte schon, Lew Angarrack würde zu ihnen stoßen, aber er blieb unsichtbar.
Dann sprach sie Jago Reeth ohne Umschweife darauf an, dass sein Defender an Santos Todestag in der Nähe der Absturzstelle gesehen worden war. DS Havers zückte Notizbuch und Stift.
Jago hielt mit der Arbeit inne, schaute zu Havers und legte den Kopf schräg, als versuchte er, Beas Frage einzuschätzen. »In der Nähe von Polcare Cove?«, fragte er. »Kann ich mir nicht vorstellen.«
»In Alsperyl, um genau zu sein«, erklärte Bea.
»Das nennen Sie nah? Alsperyl mag Luftlinie nah bei Polcare Cove liegen, aber mit dem Auto sind es etliche Meilen.«
»Zu Fuß über den Küstenpfad hätten Sie ohne Mühe von Alsperyl nach Polcare Cove gelangen können, Mr. Reeth. Selbst in Ihrem Alter.«
»Ach, und auf den Klippen bin ich auch gesehen worden, ja?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber die Tatsache, dass Ihr Wagen in der näheren Umgebung der Stelle stand, wo Santo Kerne zu Tode gekommen ist… Ich hoffe, Sie verstehen meine Neugier.«
»Hedras Hütte«, sagte er zögerlich.
»Was?«, fragte Sergeant Havers. Ihr Ausdruck ließ vermuten, dass sie sich fragte, ob das ein für diese Gegend gebräuchlicher Kraftausdruck war.
»Eine alte Holzhütte, die in die Klippen gebaut worden ist«, erklärte Jago ihr bereitwillig. »Dort war ich.«
»Darf man fragen, was Sie dort gemacht haben?«, erkundigte sich Bea.
Jago schien kurz darüber nachzudenken, ob ihre Frage oder gar eine Antwort unangebracht sein mochte. »Das war eine Privatangelegenheit«, erwiderte er schließlich. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit.
»Das werde ich entscheiden müssen«, stellte Bea klar.
Die Tür zur Shapingwerkstatt öffnete sich, und Lew Angarrack kam herein. Er war wie schon bei ihrem letzten Besuch genauso gekleidet wie Jago und trug Schutzmaske und -brille um den Hals. Rund um Augen, Nase und Mund war er rein von Staub, und der kreisförmige Ausschnitt wirkte seltsam rosa in dem umgebenden Weiß. Er tauschte einen unergründlichen Blick mit Jago.
»Ah. Und Sie waren ebenfalls in der Nähe von Polcare Cove, Mr. Angarrack«, sagte Bea zur Begrüßung. Die Überraschung auf Jago Reeths Gesicht entging ihr nicht.
»Wann soll das gewesen sein?« Angarrack legte Maske und Brille auf das Surfboard, das Jago bearbeitet hatte.
»An dem Tag, als Santo Kerne abgestürzt ist. Oder genauer gesagt: an dem Tag, als Santo Kerne ermordet wurde. Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich war nicht dort«, erwiderte er. »Nicht in Polcare Cove jedenfalls.«
»Ich sagte, in der Nähe.«
»Dann meinen Sie Buck's Haven, wobei man wohl darüber streiten könnte, ob es in der Nähe liegt. Ich war dort zum Surfen.«
Jago streifte Lew Angarrack mit einem raschen Blick; Lew schien es jedoch nicht zu bemerken.
»Zum Surfen?«, wiederholte Bea. »Und wenn ich mir diese Wetterkarten ansehe, die ihr Surfer benutzt… Wie heißen die gleich wieder?«
»Isobarenkarten. Und ja, wenn Sie sie ansehen würden, würden Sie feststellen, dass die Wellen Mist waren, der Wind aus der falschen Richtung kam und es nicht lohnte rauszufahren.«
»Warum haben Sie sich dann die Mühe gemacht?«, fragte Havers.
»Ich wollte nachdenken. Das Meer war für mich dafür immer schon der beste Ort. Und wenn ich obendrein dabei noch ein paar Wellen erwische, ist es umso besser. Aber die Wellen waren nicht der Grund, warum ich dort war.«
»Worüber haben Sie nachgedacht?«
»Über die Ehe«, antwortete er.
»Ihre eigene?«
»Ich bin geschieden. Schon seit Jahren. Die Frau, mit der ich jetzt zusammen bin…« Er verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. Er sah aus, als habe er eine Menge schlaflose Nächte hinter sich, und Bea fragte sich, wie viele davon wohl realistischerweise seiner verzwickten Beziehung zuzurechnen waren. »Wir sind seit ein paar Jahren zusammen. Sie möchte unbedingt heiraten. Ich ziehe es allerdings vor, die Dinge so zu belassen, wie sie sind. Oder mit ein paar marginalen Veränderungen.«
»Und welcher Art wären diese Veränderungen?«
»Was zum Henker geht Sie das an? Wir waren beide schon mal verheiratet und haben das alles schon mal mitgemacht, aber sie sieht es nicht so.«
Jago Reeth gab einen Laut von sich, der Ähnlichkeit mit einem Schnauben hatte. Er schien anzudeuten, dass er und Lew Angarrack in diesem Punkt einer Meinung waren. Er fuhr mit seiner Arbeit fort, und Lew warf einen Blick darauf. Er strich mit dem Finger über den fertig geschliffenen Bereich und nickte.
»Also, was genau haben Sie gemacht?«, fragte Bea den Surfer. »Sie sind mit dem Brett auf den Wellen rumgeschaukelt und haben überlegt, ob Sie sie heiraten sollen oder nicht?«
»Nein. Ich hatte mich bereits entschieden.«
»Und wofür?«
Er trat von den Holzböcken und dem Surfboard zurück. »Ich sehe nicht, was diese Frage mit Ihrem Fall zu tun haben sollte. Also lassen Sie mich auf den Punkt kommen. Wenn Santo Kerne von der Klippe gestürzt ist, wurde er entweder gestoßen, oder seine Ausrüstung hat versagt. Da mein Wagen ein gutes Stück von Polcare Cove entfernt und ich selbst zu der Zeit auf dem Wasser war, kann ich ihn schon mal nicht gestoßen haben. Bleibt seine Ausrüstung. Also nehme ich an, was Sie wirklich wissen wollen, ist, wer Zugriff auf seine Kletterausrüstung hatte. Habe ich uns auf dem direkten Weg ein wenig schneller ans Ziel gebracht, Inspector Hannaford?«
»Es gibt meistens ein halbes Dutzend Wege zur Wahrheit«, entgegnete Bea. »Aber Sie können diesen nehmen, wenn Sie wollen.«
»Ich habe keine Ahnung, wo er seine Ausrüstung aufbewahrt hat«, sagte Angarrack. »Ich nehme an, irgendwo zu Hause.«
»Sie war in seinem Auto.«
»Na ja, an dem Tag natürlich, oder?«, fragte er. »Schließlich war er doch zum Klettern rausgefahren, verdammt noch mal.«
»Lew… Sie macht nur ihren Job«, sagte Jago beschwichtigend, ehe er sich an Bea wandte: »Ich hatte Zugang zu seiner Ausrüstung, wenn man's genau nimmt. Und wusste, wo sie war. Der Junge und sein Vater hatten sich einmal zu oft gestritten…«
»Worüber?«, unterbrach Bea.
Jago Reeth und Angarrack tauschten einen Blick. Das entging Bea nicht, und sie wiederholte ihre Frage.
»Über alles Mögliche«, lautete Jagos Antwort. »Sie waren in vielen Dingen unterschiedlicher Meinung, und irgendwann hat Santo seine Ausrüstung aus dem Haus geschafft. Nach dem Motto: "Ich zeig's dir", wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich zeig dir was genau, Mr. Reeth?«
»Ich zeig dir… was immer Jungen glauben, ihren Vätern zeigen zu müssen.«
Die Antwort war schwerlich zufriedenstellend. »Wenn einer von Ihnen etwas Relevantes weiß, möchte ich es jetzt hören«, erklärte Bea.
Wieder ein Blick zwischen den beiden, dieses Mal länger. Dann sagte Jago zu Lew: »Du weißt, dass es mir nicht ansteht, Kumpel…«