»Jamie Parsons nicht.«
»Na schön. Das lasse ich gelten. Inspector Wilkie glaubt das ebenfalls. Sie werden mehr als ein Vierteljahrhundert später nicht vor Gericht gestellt werden für die unglaubliche Dummheit, den Jungen in dieser Höhle zurückgelassen zu haben. Alles, was ich wissen will, ist: Was ist in jener Nacht wirklich passiert?«
»Es war Jack. Jack.« Das Eingeständnis brach förmlich aus Frankie Kliskey hervor, als hätte er dreißig Jahre lang darauf gewartet. Zu den anderen sagte er: »Jack ist tot, also was macht es noch? Ich will das nicht länger mit mir herumtragen. Ich bin es so verdammt satt, Darren.«
»Gott verflucht…«
»Damals habe ich den Mund gehalten, und sieh mich doch heute an! Sieh mich an!« Er streckte die Hände aus. Sie zitterten, als litte er an Schüttellähmung. »Ein Cop kreuzt auf, und alles drängt wieder an die Oberfläche. Ich will das nicht noch mal.«
Darren stieß sich vom Tisch ab eine wütende Gebärde und zugleich eine Geste der Distanzierung, als wollte er sagen: Mach doch, was du willst.
Wieder breitete sich angespanntes Schweigen aus. Nur der Schrei der Möwen und die Fehlzündung eines Motorboots unten in der Bucht unterbrachen die Stille.
»Sie hieß Nancy Snow«, sagte Chris Outer bedächtig. »Sie war Jack Dustows Freundin. Jack war einer von uns.«
»Er ist derjenige, der an Lymphdrüsenkrebs gestorben ist«, bemerkte Lynley. »Richtig?«
»Richtig. Er hat Nan dazu überredet… zu tun, was dann eben passiert ist. Wir hätten auch Dellen nehmen können — das ist Bens Frau, damals hieß sie Dellen Nankervis, weil die immer für alles zu haben war…«
»Sie war in jener Nacht auch da?«, hakte Lynley nach.
»O ja, sie war da. Ihretwegen hat das alles doch überhaupt erst angefangen. Weil sie da war.« Er fasste die Ereignisse zusammen: Krach in einer Teenagerbeziehung, jeder wollte es dem anderen heimzahlen, und zwar mit einem willigen neuen Partner, Jamie reagierte wütend, als seine Schwester sich mit Ben Kerne einließ, und ging auf Ben los…
»Er war sowieso fällig, wie Sie gesagt haben«, schloss Frankie Kliskey. »Keiner von uns konnte den Kerl ausstehen. Also hat Jack Nan überredet, ihn anzumachen. Was dazu führte, dass Jamie es gleich an Ort und Stelle mit ihr treiben wollte.«
»Vorzugsweise da, wo jeder es sehen konnte«, fügte Darren Fields hinzu.
»Wo Jack es sehen konnte«, korrigierte Chris. »So war Jamie.«
»Aber Nan sagte Nein«, setzte Frankie die Geschichte fort. »Auf keinen Fall wollte sie es da tun, wo andere zusehen konnten, wo vor allem Jack sie würde beobachten können. Lass uns runter zur Höhle gehen, hat sie gesagt, und das haben sie auch getan. Und dort haben wir auf sie gewartet.«
»Sie kannte den Plan?«
»Jack hatte es ihr gesteckt«, antwortete Chris. »Sie wusste Bescheid. Lock Jamie mit dem Versprechen auf Sex runter zur Höhle. Geh mit ihm zusammen dort runter, denn er ist nicht blöd, und auf das bloße Versprechen, dort aufzukreuzen, würde er nicht eingehen. Geht also gemeinsam hin. Tu so, als wolltest du's genauso wie er. Den Rest übernehmen wir. Also kamen sie so gegen halb zwei runter an den Strand. Wir hatten uns in der Höhle versteckt, und Nan führte ihn geradewegs zu uns. Den Rest… können Sie sich selbst zusammenreimen.«
»Es konnte nicht viel schiefgehen. Sie waren zu sechst.«
»Nein«, widersprach Darren. Seine Stimme klang rau. »Ben Kerne war nicht dabei.«
»Wo war er denn?«
»Er war längst nach Hause gegangen. Er war einfach dämlich und verbohrt, wenn es um Dellen ging. Immer schon. Gott, wenn sie nicht gewesen wäre, wäre er gar nicht erst zu der blöden Party gegangen. Aber er brauchte Aufmunterung, also haben wir gesagt: "Lass uns hingehen und seinen Fusel trinken und sein Büfett abräumen und seine Musik hören." Nur war sie eben auch da, diese verfluchte Dellen mit irgendeinem neuen Kerl, und prompt hat Ben sich an das falsche Mädchen rangemacht. Und danach wollte er nur noch nach Hause. Also ist er gegangen. Der Rest von uns hat mit Nan gesprochen, Nan ist zurück auf die Party gegangen und…« Darren wies in Richtung Strand, wo zu ihren Füßen die Höhle in den Klippen versteckt lag.
Lynley setzte die Geschichte fort: »Sie haben ihm in der Höhle die Kleidung abgenommen und ihn gefesselt. Sie haben ihn mit Kot beschmiert. Haben Sie auch über ihn uriniert? Nein? Sondern? Onaniert? Einer von Ihnen? Sie alle?«
»Er hat geheult«, sagte Darren. »Das war alles, was wir wollten. Als er anfing zu heulen, waren wir fertig mit ihm. Wir haben ihn losgebunden und liegen lassen. Sollte er doch selbst die Klippe rauffinden. Den Rest kennen Sie.«
Lynley nickte. Die Geschichte verursachte ihm eine fahle Übelkeit. Es war eine Sache zu mutmaßen, aber eine ganz andere, die Wahrheit ausgesprochen zu hören. Es gab so viele Jamie Parsons auf der Welt und so viele Jungen wie diese Männer, die hier vor ihm standen. Diese weite Kluft zwischen ihnen und die Frage, ob und wie man diese Kluft je überbrücken konnte. Jamie Parsons war vermutlich unerträglich gewesen. Aber das hieß noch lange nicht, dass er verdient gehabt hätte zu sterben.
»Eines würde mich noch interessieren«, sagte Lynley.
Sie warteten. Alle sahen ihn an: Darren Fields trotzig, Chris Outer so gelassen, wie er vermutlich vor achtundzwanzig Jahren schon gewesen war, Frankie Kliskey ängstlich, als befürchtete er einen weiteren psychologischen Tiefschlag.
»Wie haben Sie es geschafft, alle bei derselben Geschichte zu bleiben, als Sie damals von der Polizei vernommen wurden? Bevor die sich auf Ben Kerne eingeschossen hatte, meine ich.«
»Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.« Es war Darren, der sprach, und Lynley verstand: Nur drei Sätze, wieder und wieder aufgesagt. Sie mochten unverantwortlich dumm gehandelt haben, diese fünf Jungen, aber mit dem Gesetz hatten sie sich hinreichend ausgekannt.
»Was haben Sie mit den Kleidungsstücken gemacht?«
»Hier wimmelt es nur so von Stollen und Minenschächten«, erklärte Chris. »Das ist typisch für diese Ecke Cornwalls.«
»Und was war mit Ben Kerne? Haben Sie ihm gesagt, was passiert ist?«
»Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.«
Also war Ben Kerne genauso ahnungslos gewesen wie alle anderen, dachte Lynley, abgesehen von den fünf Jungen und dem Mädchen. »Was war mit Nancy Snow?«, fragt er. »Wie konnten Sie sicher sein, dass sie nicht reden würde?«
»Sie war schwanger von Jack«, antwortete Darren. »Im dritten Monat. Es lag in ihrem Interesse, Jack aus Schwierigkeiten herauszuhalten.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Sie haben geheiratet. Nachdem er gestorben ist, ist sie mit ihrem zweiten Mann nach Dublin gezogen.«
»Also hatten Sie von ihr nichts zu befürchten.«
»Wir hatten von niemandem etwas zu befürchten. Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.«
Es gab nichts weiter zu sagen. Es war immer noch wie unmittelbar nach Jamie Parsons' Tod vor beinah dreißig Jahren.
»Haben Sie sich überhaupt nicht verantwortlich gefühlt, als die Polizei sich auf Ben Kerne versteift hatte?«, fragte Lynley. »Irgendjemand hat ihn angeschwärzt. War es einer von ihnen?«
Darren lachte rau. »Wohl kaum. Nur jemand, der Ben in Schwierigkeiten bringen wollte, hätte ihn angeschwärzt.«
22
»Sie glaubt, du hättest Santo umgebracht.«
Alan sprach erst, als sie ein gutes Stück von Adventures Unlimited entfernt waren. Er hatte Kerra aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern und den Korridor entlanggezerrt und die Treppe hinabgeführt. Sie hatte sich gewehrt und gefaucht: »Lass mich los! Alan! Gott verflucht, lass mich los!« Aber er hatte sich nicht erweichen lassen. Und er war stark. Wer hätte gedacht, dass jemand, der so schmächtig gebaut war wie Alan Cheston, so stark sein konnte?