»Hör auf«, bat Kerra. Endlich waren sie am entscheidenden Punkt angelangt, doch nun konnte sie es nicht ertragen, die Details zu hören. Im Grunde war es wieder und wieder die gleiche Geschichte mit dem ewig gleichen Verlauf. Nur die männlichen Hauptfiguren änderten sich.
»Das werde ich«, versprach Alan. »Aber erst wirst du mir zuhören und dann erst entscheiden, was du glauben willst. Sie hat behauptet, die Strandhöhlen seien perfekt für unser Video. Wir müssten unbedingt hinfahren und sie uns ansehen. Daraufhin habe ich ihr gesagt, ich müsste vorher noch ein paar Besorgungen machen, und wir könnten uns dann erst dort treffen, weil ich nicht im selben Wagen mit ihr dorthinfahren wollte. Also haben wir uns dort getroffen, und sie hat mir die Bucht gezeigt, das Dorf und die Höhlen. Nichts ist zwischen uns vorgefallen, denn ich hatte nicht die Absicht, dass jemals etwas zwischen uns vorfallen sollte.« Während er gesprochen hatte, hatte er den Blick unverwandt auf die Strandhütten gerichtet, doch jetzt sah er wieder Kerra an. Seine Miene war ernst, und in den Augen stand Wachsamkeit. Kerra hatte keine Ahnung, was das bedeutete.
»Jetzt musst du entscheiden, Kerra. Du hast die Wahl.«
Und sie verstand: Wem sollte sie glauben? Ihm oder ihren Instinkten? Was sollte sie wählen? Vertrauen oder Argwohn?
»Sie haben mir alles weggenommen, was ich je geliebt habe.« Tiefe Hoffnungslosigkeit lag in ihren Worten.
»Liebste Kerra«, sagte er leise. »So läuft das nicht.«
»Aber in unserer Familie ist es schon immer so gelaufen.«
»Vielleicht in der Vergangenheit. Vielleicht hast du Menschen verloren, die du nicht verlieren wolltest. Vielleicht hast du sie auch einfach losgelassen. Vielleicht sogar weggestoßen. Die Sache ist aber: Es lässt sich niemand wegnehmen, der nicht weggenommen werden will. Und wenn dir jemand weggenommen wird, dann sagt das nichts über dich aus. Wie könnte es das?«
Sie hörte die Worte und spürte deren Wärme. Die Wärme ließ sie innerlich ganz ruhig werden. Diese Empfindung war für Kerra seltsam und unerwartet. Sie fühlte, wie durch Alans Worte etwas in ihr aufriss, irgendetwas Undefinierbares, es gab nach, als löste ein riesiges innerliches Bollwerk sich in Rauch auf. Tränen brannten ihr in den Augen, aber sie wollte sie sich nicht gestatten.
»Dich«, flüsterte sie schließlich.
»Mich? Was?«
»Ich nehme an, ich wähle dich.«
»Du nimmst es nur an?«
»Mehr kann ich im Moment nicht, Alan…«
Er nickte. Dann fuhr er fort: »Ich hatte einen Kameramann dabei. Das war die Besorgung, die ich zu erledigen hatte, bevor ich nach Pengelly Cove fuhr. Ich musste den Kameramann abholen. Ich wollte nicht allein zu den Strandhöhlen gehen.«
»Warum hast du mir das denn nicht einfach erzählt? Warum hast du nicht gesagt…?«
»Weil ich wollte, dass du deine Wahl triffst. Ich wollte, dass du mir glaubst. Sie ist krank, Kerra. Jeder, der auch nur einen Funken Verstand besitzt, kann sehen, dass sie krank ist.«
»Sie war schon immer so…«
»Sie war schon immer krank. Und wenn du dein ganzes Leben damit zubringst, auf ihre Krankheit zu reagieren, macht dich das irgendwann selbst krank. Du musst entscheiden, ob du wirklich so leben willst. Ich jedenfalls will das nicht.«
»Sie wird trotzdem weiter versuchen…«
»Vermutlich ja. Oder aber ihr wird endlich geholfen. Entweder sie trifft die Entscheidung selbst, oder dein Vater muss darauf bestehen, oder sie endet eines Tages allein, auf der Straße, in der Gosse und spätestens dann wird sie sich gezwungen sehen, sich zu ändern, schon allein um zu überleben. Ich weiß auch nicht… Ich weiß nur: Ich will mein Leben selbst bestimmen, unbeeinflusst davon, wie deine Mutter ihres lebt. Und was genau willst du? Das Gleiche? Oder etwas anderes?«
»Das Gleiche«, räumte sie ein. Ihre Lippen fühlten sich taub an. »Aber ich habe… solche Angst.«
»Wir alle haben letztlich Angst, denn es gibt für nichts Garantien. So ist das Leben nun einmal.«
Sie nickte stumm. Wieder brach sich eine Welle an der Poolmauer. Kerra zuckte zusammen.
»Alan…«, sagte sie schließlich. »Ich habe… Ich hätte Santo niemals etwas getan.«
»Natürlich nicht. Genauso wenig wie ich.«
Bea war allein in der Einsatzzentrale, als sie den Computer einschaltete. Sie hatte Barbara Havers zurück nach Polcare Cove geschickt, um Daidre Trahair abzuholen. Sollte die Tierärztin nicht wieder zu Hause sein, werde Havers eine Stunde warten, hatte Bea ihr aufgetragen, und dann Feierabend machen, wenn Dr. Trahair sich immer noch nicht blicken ließ. Dann würden sie sie sich eben am nächsten Tag vorknöpfen.
Auch das restliche Team hatte sie nach einer ausführlichen Lagebesprechung heimgeschickt. »Essen Sie etwas Ordentliches, und schlafen Sie sich aus«, hatte sie den Kollegen mit auf den Weg gegeben. »Morgen früh werden die Dinge anders und klarer aussehen, und wir werden neue Möglichkeiten entdecken.« Jedenfalls hoffte sie das.
Als alle gegangen waren, fuhr sie den Computer hoch. Sie gab damit Constable McNultys fragwürdigem Ermittlungsansatz nach, aber dafür gab es einen Grund: Als sie und Sergeant Havers im Begriff gewesen waren, LiquidEarth zu verlassen, war Bea vor dem Poster stehen geblieben, das den jungen Constable so fasziniert hatte — der Surfer auf der monströsen Welle, und sie hatte gefragt: »Und das war die Welle, die ihn umgebracht hat?«
Beide Männer, Lew Angarrack und Jago Reeth, waren mit in den Vorderraum gekommen. Angarrack war derjenige, der nachgehakt hatte: »Wen?«
»Mark Foo. Ist das hier nicht Mark Foo auf der Mavericks-Welle, die ihn getötet hat?«
»Foo ist in Mavericks umgekommen, stimmt. Aber das hier ist ein jüngerer Surfer, Jay Moriarty«, hatte Lew geantwortet.
»Jay Moriarty?«
»Ja.« Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und sie neugierig betrachtet. »Warum?«
»Mr. Reeth meinte, dies wäre Mark Foos letzte Welle.«
Angarrack hatte Jago Reeth einen überraschten Blick zugeworfen. »Wie kommst du denn auf Foo? Der hatte doch ein ganz anderes Brett.«
Jago hatte daraufhin seinen Posten an der Tür verlassen und war tiefer in den Verkaufsraum hineingetreten, wo das Poster an der Wand hing. Er hatte Bea anerkennend zugenickt: »Volle Punktzahl.« Und an Lew gewandt: »Sie machen ihre Arbeit gründlich und lassen sich nicht die kleinste Bemerkung entgehen, genau wie es sein sollte. Ich musste mich doch vergewissern, oder? Ich hoffe, Sie nehmen es nicht persönlich, Inspector.«
Bea war verärgert gewesen. Jeder, der das Mordopfer gekannt hatte, wollte in die Ermittlungen eingebunden sein. Aber sie hasste es, wenn man ihre Zeit verschwendete, und sie schätzte es überhaupt nicht, derart auf die Probe gestellt zu werden. Und noch weniger hatte sie den Blick geschätzt, mit dem Jago Reeth sie nach dieser Eröffnung betrachtet hatte: dieser wissende Ausdruck, den Männer so oft an den Tag legten, wenn sie es mit einer Frau zu tun bekamen, die sich ihnen gegenüber in einer überlegenen Position befand.
»Tun Sie das nie wieder«, hatte sie ihn gewarnt, und dann war sie zusammen mit Barbara Havers hinausgegangen. Doch als sie nun allein in der Einsatzzentrale saß, fragte sie sich, ob Jago Reeth seine Falschaussage wirklich gemacht hatte, um ihre Gründlichkeit zu testen, oder aus einem vollkommen anderen Grund. Bea sah nur zwei weitere Optionen: Er hatte den Surfer falsch identifiziert, weil er sich einfach geirrt hatte, was ihr jedoch unwahrscheinlich vorkam. Oder er hatte es absichtlich getan, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In jedem Fall lautete die Frage: Warum? Doch sie fand auf die Schnelle keine Antwort darauf.
Die nächsten neunzig Minuten verbrachte sie damit, durch die endlosen Weiten des Internets zu driften. Sie suchte nach Informationen über Moriarty und Foo und fand heraus, dass beide tot waren — wie so viele andere Surfer auch. Sie folgte der Spur dieser gestaltlosen Individuen, bis sie schließlich ihre Gesichter vor sich sah. Sie studierte sie, hoffte auf irgendein Zeichen, das ihr verriet, was sie als Nächstes tun sollte, aber falls es eine Verbindung zwischen diesen verunglückten Wellenreitern und einem tödlichen Kletterunfall in Cornwall gab, entdeckte sie sie nicht. Schließlich gab sie die Suche auf.