Lynley trat zu ihnen an den Tisch. Er betrachtete das Foto, das einen einsamen Surfer auf einer riesigen jadegrünen Welle zeigte, die wie eine heranrasende Felswand wirkte. Auf dem letzten Bild hatte die brechende Welle den Surfer bereits verschluckt. Man konnte nur noch eine geisterhafte Gestalt hinter dem weißen, herabstürzenden Wasser ausmachen: ein Stoffpüppchen in der Waschmaschine.
»Manche von diesen Typen leben dafür, sich auf so einer Monsterwelle fotografieren zu lassen«, schloss McNulty seine Ausführungen. »Und einige sterben dafür. So wie er.«
»Wer ist das?«, fragte Lynley.
»Mark Foo«, antwortete McNulty.
»Vielen Dank, Constable«, sagte Bea Hannaford. »Sehr dramatisch, sehr tragisch und ausgesprochen erhellend. Aber jetzt zurück an die Arbeit! Mr. Priestleys Fingerabdrücke warten auf Sie.« Und an Lynley gewandt: »Ich muss Sie sprechen. Und Sie auch, Sergeant Havers.« Sie nickte in Richtung der Tür, und die beiden folgten ihr in das unzureichend ausgestattete Verhörzimmer, in dem immer noch allerlei Papierprodukte lagerten, weil niemand so recht wusste, wo man sie sonst hätte unterbringen sollen. Hannaford setzte sich nicht, und auch Lynley und Havers blieben stehen.
»Erzählen Sie mir von Falmouth, Thomas«, begann sie.
Noch ganz mit den Ereignissen des Tages beschäftigt, war Lynley im ersten Moment ehrlich verwirrt. »Ich war in Exeter«, erwiderte er. »Nicht in Falmouth.«
»Spielen Sie keine Spielchen mit mir. Ich weiß sehr wohl, wo Sie waren. Was wissen Sie über Daidre Trahair und Falmouth, das Sie mir nicht mitgeteilt haben? Und Sie beide sollten mich lieber nicht noch einmal anlügen. Einer von Ihnen war dort, und wenn Sie diejenige waren, Sergeant Havers, was Dr. Trahair offenbar vermutet, dann kann es wohl nur einen Grund geben, warum Sie diesen kleinen Umweg gemacht haben. Und das hat absolut nichts mit meinen Befehlen zu tun. Habe ich recht?«
Lynley intervenierte. »Ich habe Barbara gebeten herauszufinden…«
»So sehr Sie das überraschen mag«, fiel Bea ihm ins Wort. »Das hatte ich bereits selbst herausbekommen. Aber das Problem ist, dass nicht Sie diese Ermittlung leiten, sondern ich.«
»So war es nicht«, wandte Havers ein. »Er hat mich nicht darum gebeten hinzufahren. Er wusste nicht einmal, dass ich auf dem Weg hierher war, als er mich bat, ihre Vergangenheit zu durchleuchten.«
»Ach, so ist das, ja?«
»Ganz genau. Er hat mich auf dem Handy angerufen. Da saß ich gerade im Auto. Das hat er wohl gemerkt, schätze ich, aber er hatte keine Ahnung, wo ich mich gerade aufhielt oder wohin ich unterwegs war. Und er hatte auch keine Ahnung, dass ich überhaupt die Möglichkeit hatte, nach Falmouth zu fahren. Er bat mich lediglich darum, ein paar Details aus ihrer Biografie zu überprüfen. Zufälligerweise war ich aber auf dem Weg hierher. Und da Falmouth so gut wie auf der Strecke lag, habe ich mir gedacht, ich fahre hin, bevor…«
»Sind Sie verrückt? Es lag etliche Meilen ab von Ihrer Strecke. Was ist nur los mit Ihnen beiden?«, verlangte Bea zu wissen. »Machen Sie bei einer Ermittlung immer, was Sie wollen, oder bin ich die erste Kollegin, der Sie diese Ehre erweisen?«
»Bei allem Respekt, Ma'm«, begann Lynley.
»Unterstehen Sie sich, mich Ma'm zu nennen!«
»Bei allem Respekt, Inspector«, sagte Lynley. »Ich gehöre nicht zu diesem Ermittlungsteam. Jedenfalls nicht offiziell. Ich bin noch nicht einmal mehr…« Er suchte nach einem passenden Ausdruck, »… im Polizeidienst.«
»Soll das ein Witz sein, Superintendent Lynley?«
»Keineswegs. Ich versuche nur, darauf hinzuweisen, dass ich, nachdem Sie verfügt haben, dass ich Sie bei den Ermittlungen unterstützen werde, ohne jede Rücksicht auf meine persönlichen Wünsche…«
»Sie sind ein Hauptzeuge, verdammt noch mal! Ihre Wünsche kümmern hier niemanden. Was haben Sie denn erwartet? Dass Sie einfach fröhlich weiterspazieren können?«
»Was die ganze Sache umso irregulärer macht«, entgegnete er.
»Da hat er in der Tat recht«, fügte Havers hinzu. »Wenn ich das sagen darf.«
»Das dürfen Sie nicht. Absolut nicht. Es gibt eine Befehlskette, und die wird nicht unterbrochen.« Und an Lynley gewandt: »Trotz Ihres Ranges leite ich diese Ermittlung, nicht Sie. Sie sind nicht in der Position, irgendwem Aufgaben zuzuteilen, auch nicht Sergeant Havers, und wenn Sie sich nicht daran halten…«
»Er wusste es doch nicht«, warf Havers ein. »Ich hätte ihm ja sagen können, dass ich auf dem Weg nach Cornwall war, als er mich anrief, aber das habe ich nicht getan. Ich hätte ihm sagen können, dass ich anderslautende Befehle hatte…«
»Was für Befehle?«, fragte Lynley.
»… aber auch das hab ich nicht getan. Sie wussten, dass ich früher oder später hier eintrudeln würde…«
»Wessen Befehle?«, beharrte Lynley.
»… darum hab ich mir nichts dabei gedacht, als er anrief…«
»Wessen Befehle?«
»Sie wissen genau, wessen Befehle«, gab Havers zurück.
»Hat Hillier Sie etwa hier runtergeschickt?«
»Was dachten Sie denn? Dass er Sie einfach so gehen lässt? Dass es allen egal wäre? Dass keiner sich Sorgen macht? Keiner einschreiten will? Haben Sie sich wirklich eingebildet, Sie könnten einfach so verschwinden, dass Sie von so geringer Bedeutung sind für…«
»Schon gut, schon gut!«, unterbrach Bea. »Jeder zurück in seine Ecke. Mein Gott! Es reicht!« Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Auf der Stelle ist jetzt Schluss damit. Verstanden? Sie sind eine Leihgabe an mich«, sagte sie zu Havers. »Nicht an ihn. Mir ist jetzt klar, dass es Hintergedanken bei dem Angebot gab, Sie zur Unterstützung herzuschicken, aber was immer diese Hintergedanken gewesen sein mögen, Sie werden sie in Ihrer Freizeit abhandeln, nicht während der Dienstzeit.« Sie wandte sich an Lynley. »Und Sie werden von jetzt an offen und ehrlich sein in Bezug auf was immer Sie tun und was immer Sie wissen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Klar und deutlich«, versicherte Lynley. Havers nickte, aber er sah, dass sie aufgebracht war und noch eine Menge zu sagen hatte — nicht zu Hannaford, sondern zu ihm.
»Gut. Großartig. Also, fangen wir mit Daidre Trahair noch mal von vorn an, und dieses Mal legen wir alle Karten auf den Tisch. Habe ich mich auch in dieser Hinsicht klar ausgedrückt?«
»Allerdings.«
»Sehr schön. Also, erhellen Sie mich über die Details.«
Lynley wusste, ihm blieb nichts anderes übrig. »Es scheint keine Daidre Trahair gegeben zu haben, ehe sie mit dreizehn auf die Gesamtschule kam«, berichtete er. »Und obwohl sie behauptet, zu Hause in Falmouth zur Welt gekommen zu sein, gibt es auch keine Geburtsurkunde. Außerdem decken Teile ihrer Geschichte über ihren Job in Bristol sich nicht mit den Fakten.«
»Welche Teile?«
»Es gibt im dortigen Zoo eine angestellte Veterinärin namens Daidre Trahair, aber der Mann, den sie mir als ihren Freund Paul beschrieben hat — vorgeblich der Primatenpfleger, existiert nicht.«
»Davon haben Sie mir gar nichts erzählt«, warf Havers ein. »Warum nicht?«
Lynley seufzte. »Sie scheint einfach nicht… Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie eine Mörderin ist. Ich wollte die Dinge für sie nicht noch schwieriger machen.«
»Schwieriger als was?«, fragte Hannaford.
»Ich weiß nicht. Es scheint… Ich gebe zu, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Ich glaube nur nicht, dass es mit dem Mord zu tun hat.«