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»Darauf bleibt mir natürlich nur zu erwidern, dass ich Sie haushoch schlagen und bis auf die Knochen demütigen werde«, konterte Lynley.

»Den Fehdehandschuh nehme ich auf. Wir spielen jetzt gleich, einverstanden? Der Verlierer macht den Abwasch.«

»Einverstanden.«

Ben Kerne wusste, er würde seinen Vater anrufen müssen. Es war ihm zwar klar, dass er angesichts dessen Alters eigentlich persönlich nach Pengelly Cove fahren und ihm die Nachricht von Santo schonend beibringen sollte, aber er war seit Jahren nicht dort gewesen und konnte einer Rückkehr im Moment auch nicht ins Auge sehen. Pengelly Cove hatte sich garantiert kein bisschen verändert — die abgeschiedene Lage zum einen, zum anderen die Entschlossenheit der Bürger, niemals irgendetwas zu ändern, erst recht nicht ihre Grundsätze und Prinzipien. Eine Fahrt dorthin würde ihn zurück in die Vergangenheit katapultieren, und sich der Vergangenheit zu stellen, erschien ihm schier unerträglich. Nur die Gegenwart war noch schlimmer. Er sehnte sich nach einem Ort des Vergessens, einem Fluss, in dem sein Geist schwimmen konnte und der seine Erinnerungen hinfortspülte, bis sie keine Macht mehr über ihn hatten.

Ben hätte die ganze Sache auf sich beruhen lassen, wäre Santo nicht der Lieblingsenkel seiner Großeltern gewesen. Er wusste genau, es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie ihn Ben je von sich aus kontaktieren würden. Das hatten sie seit seiner Heirat nicht getan, und die einzige Gelegenheit, da er mit ihnen sprach, war, wenn er selbst sich bei ihnen meldete: entweder zu Weihnachten, um eine steife Konversation zu führen, oder gelegentlich ein offeneres Gespräch mit seiner Mutter, wenn er sie auf der Arbeit anrief. Oder wenn er verzweifelt auf der Suche nach einem Ort war, wohin er Kerra und Santo schicken konnte, wenn Dellen mal wieder eine ihrer schlechten Phasen hatte. Vielleicht hätten die Dinge anders gelegen, wenn er ihnen hin und wieder geschrieben hätte. Womöglich hätte er sie mit der Zeit sogar versöhnlich gestimmt. Aber er war kein guter Briefschreiber, und selbst wenn, hätte ihm stets die Loyalität im Wege gestanden, die er Dellen schuldete, und all das, was diese Loyalität ihm seit seiner Jugend abverlangt hatte. Also hatte er nie einen Versöhnungsversuch unternommen; seine Eltern allerdings ebenso wenig. Als seine Mutter mit Ende fünfzig einen Schlaganfall erlitten hatte, hatte Ben nur deshalb davon erfahren, weil Santo und Kerra sich zu dieser Zeit bei ihren Großeltern aufgehalten und die Nachricht bei ihrer Heimkehr mitgebracht hatten. Selbst Bens Geschwistern war untersagt worden, ihn darüber zu informieren.

Ein anderer Mann hätte es seinen Eltern vielleicht mit gleicher Münze heimgezahlt und zugelassen, dass sie durch irgendeinen dummen Zufall von Santos Tod erfuhren. Aber Ben hatte versucht und war in so vieler Hinsicht gescheitert, ein anderer Mann zu sein als sein Vater. Und das bedeutete, er musste eine Bresche in die Mauer sprengen, die sein Herz umgab, und sich ihrer erbarmen, obgleich doch sein einziger Wunsch war, sich an irgendeinem Ort zu verstecken, wo er allein und unbehelligt all das betrauern konnte, was er betrauern musste.

Außerdem würde die Polizei Eddie und Ann Kerne früher oder später ohnehin kontaktieren. Sie würde, wie es nun einmal ihre Aufgabe war, im Leben und in der Vergangenheit eines jeden herumstöbern, der mit dem Verstorbenen zu tun gehabt hatte — Gott, jetzt nannte er Santo schon einen Verstorbenen! Was sagte das wohl über seinen Gemütszustand aus?, und sie würde nach allem suchen, was Anlass bot, irgendjemandem Schuld zuzuweisen. Sobald sein Vater von Santos Tod erfuhr, würde er seine Trauer zweifellos zunächst in Beschimpfungen und dann in Anklagen kleiden. Und es wäre keine Frau an seiner Seite, die in der Lage wäre, ihn zu besänftigen. Stattdessen würde Ann Kerne in der Nähe stehen, und ihre Miene würde die Qual offenbaren, die sie all die Jahre an der Seite eines Mannes erduldet hatte, den sie liebte, aber nicht bändigen konnte. Und obwohl es keinen Hinweis darauf gab, dass Ben die Schuld an Santos Tod trug, war es doch Aufgabe der Polizei, Schlüsse zu ziehen, Punkte zu verbinden, ganz gleich ob sie irgendetwas miteinander zu tun hatten. Darum wollte Ben nicht, dass die Ermittler mit seinem Vater sprachen, ehe dieser erfahren hatte, was mit seinem Lieblingsenkel passiert war.

Ben beschloss, den Anruf von seinem Büro aus zu tätigen und nicht aus der Wohnung. Er stieg die Treppe hinab, statt den Fahrstuhl zu nehmen, denn so konnte er das Unvermeidliche noch ein wenig länger aufschieben. Im Büro angelangt, griff er nicht sofort nach dem Telefon. Stattdessen betrachtete er die Magnettafel, auf der die Wochen vor und nach der Eröffnung von Adventures Unlimited in Kalenderform aufgeführt waren.

Sowohl Aktivitäten als auch Buchungen waren dort eingetragen. Der Anblick der Tafel führte ihm deutlicher denn je vor Augen, wie dringend sie Alan Cheston brauchten. In den Monaten vor Alans Ankunft hatte es Dellen oblegen, sich um das Marketing zu kümmern, aber sie hatte nicht allzu viel zustande gebracht. Sie hatte zwar Ideen gehabt, aber praktisch keine davon in die Tat umgesetzt. Organisation gehörte eben nicht zu ihren Stärken.

 Und was ist ihre Stärke, wenn man fragen darf?, hätte sein Vater zu wissen verlangt. Vergiss es! Du brauchst nicht zu antworten. Das ganze verdammte Dorf weiß, was sie am besten kann, da mach dir mal nichts vor.

Das stimmte natürlich nicht. Es war einfach die Art seines Vaters, ihn zu verhöhnen, weil er überzeugt war, man müsse dafür sorgen, dass Kinder nicht gar zu selbstbewusst würden. Er vertrat tatsächlich die Ansicht, Kinder dürften unter keinen Umständen Vertrauen in ihre eigenen Entscheidungen entwickeln. Er war kein schlechter Mensch, einfach nur festgefahren in seiner Art, und seine Art war nicht Bens, und so war es letztlich zum Konflikt gekommen.

Genau wie zwischen ihm selbst und Santo, ging Ben nun auf. Das Schlimmste daran, Vater zu sein, war die Erkenntnis, dass der eigene Vater einen Schatten warf, dem zu entkommen man niemals hoffen konnte.

Er betrachtete den Kalender. Noch vier Wochen bis zur Eröffnung. Und sie mussten öffnen, auch wenn er sich im Moment nicht vorstellen konnte, wie sie das bewerkstelligen sollten. Er war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache, aber sie hatten so viel Geld in dieses Unternehmen investiert, dass es außer Frage stand, die Eröffnung zu verschieben, ganz zu schweigen davon, überhaupt nicht zu öffnen. Außerdem betrachtete Ben die eingegangenen Buchungen als Verträge, die er nicht brechen durfte, und auch wenn es nicht so viele geworden waren, wie er es sich für diesen Zeitpunkt in der Unternehmensgründung einmal erträumt hatte, glaubte er doch daran, dass Alan Chestons Einstellung daran etwas zu ändern vermochte. Alan hatte Ideen und die Fähigkeit, sie wahr werden zu lassen. Er war clever, und er hatte Führungsqualitäten. Und das Wichtigste: Er war vollkommen anders als Santo.

Ben ahnte, dass dieser Gedanke ihn an die Grenze der Illoyalität führte. Indem er den Gedanken in sich trug, tat er ebendas, was er niemals hatte tun wollen: Er sorgte dafür, dass die Vergangenheit sich wiederholte.

 Du denkst nur mit dem Schwanz, Junge, hatte sein Vater wieder und wieder zu ihm gesagt, und einzig seine wechselnden Gefühlsregungen variierten dabei: von Bedauern über Zorn bis hin zu Hohn und Verachtung. Mit Santo hatte es sich ganz genauso verhalten, und Ben wollte lieber nicht darüber nachdenken, was hinter der Neigung seines Sohnes zu sexuellen Eskapaden gesteckt hatte oder wohin diese Neigung ihn hätte führen können.

Statt es noch länger aufzuschieben, griff er nach dem Telefon auf dem Schreibtisch. Er tippte die Zahlen mit zu viel Kraft ein. Es bestand kein Zweifel, dass sein Vater noch wach war und durch das heruntergekommene Haus spukte. Eddie Kerne litt an Schlaflosigkeit, genau wie Ben. Vermutlich würde er noch stundenlang aufbleiben und all die Dinge tun, die es nachts eben zu tun gab, wenn man sich für einen grünen Lebensstil entschied, wie sein Vater es vor Jahren getan hatte. Eddie Kerne und seine Familie hatten immer nur dann Strom gehabt, wenn sie ihn durch Wind- oder Wasserkraft erzeugen konnten. Wasser gab es nur, wenn es von einem Bach umgeleitet oder aus einem Brunnen geschöpft wurde, und Wärme nur dann, wenn die Solarzellen sie lieferten. Sie züchteten und bauten an, was sie zum Essen brauchten, und ihr Heim war ein verfallenes Farmhaus gewesen, preiswert erstanden und von Eddie und seinen Söhnen vor dem endgültigen Verfall bewahrt: Granitblock für Granitblock gekalkt, das Dach neu gedeckt und Fensterscheiben eingesetzt so dilettantisch, dass im Winter der Wind durch die Ritzen zwischen Mauer und Rahmen pfiff.