Also war sie die Treppe hinuntergehastet; der altersschwache Aufzug wäre viel zu langsam gewesen. Sie war durch den Speisesaal geeilt. Auch der öffnete sich genau wie der Geräteraum zur Terrasse hin. Sie überquerte sie und lief auf die Betontreppe zu. Als sie die Anhöhe erreicht hatte, sah sie die schwarze Gestalt am Strand neben dem Surfbrett hocken. Also wartete Kerra und beobachtete. Erst als die Gestalt von ihrem Ritt auf einer einzigen Welle zurückkehrte, erkannte sie ihren Vater.
Zahllose Fragen stiegen in ihr auf und dann Zorn, gepaart mit dem ewigen Warum, auf das es keine Antwort gab und das nichtsdestotrotz ihre Kindheit und Jugend definiert hatte. Warum hast du immer so getan, als ob…? Warum hast du mit Santo gestritten? Und darüber hinaus: das Wer. Wer bist du wirklich, Dad?
Als ihr Vater den Fuß der Treppe erreichte, stellte sie keine einzige dieser halb formulierten Fragen. Vielmehr versuchte sie, in der Dunkelheit seine Miene zu lesen.
Er hielt inne. Sein Gesicht schien einen geradezu sanften Ausdruck anzunehmen, und es sah beinahe so aus, als wollte er ihr etwas mitteilen. Doch dann war alles, was er herausbrachte: »Kerra. Liebes.« Und dann ging er weiter. Er stieg die Stufen zur Anhöhe hinauf. Kerra folgte ihm. Wortlos gingen sie auf das Hotel zu und zu dem leeren Schwimmbecken hinab. Am Beckenrand hielt ihr Vater an und spülte mit dem Schlauch das Salzwasser von seinem Surfboard. Dann betrat er das Hotel.
Im Geräteraum zog er den Neoprenanzug aus. Er trug nur Boxershorts darunter, und die Kälte verursachte ihm eine Gänsehaut. Doch sie schien ihm nichts auszumachen, denn er zitterte nicht einmal. Er trug den Neoprenanzug zu einer großen Plastikmülltonne in der Ecke und stopfte ihn achtlos hinein. Das tropfnasse Surfboard trug er in einen Nebenraum ein Hinterzimmer, sah Kerra, das sie bislang noch nie unter die Lupe genommen hatte, und dort räumte er es in einen Schrank. Diesen versperrte er mit einem Vorhängeschloss, und er vergewisserte sich, dass es auch wirklich eingerastet war, als gelte es, den Inhalt vor neugierigen Blicken zu schützen. Vor den Blicken der Familienmitglieder, ging Kerra auf. Vor ihren und vor Santos, denn ihre Mutter hatte ganz sicher davon gewusst.
Santo, dachte Kerra. Was für eine Heuchelei! Sie konnte es einfach nicht verstehen.
Ihr Vater trocknete sich mit einem T-Shirt behelfsmäßig ab, warf es beiseite und streifte einen Pullover über. Er bedeutete ihr, sich umzudrehen, und nachdem sie seinem Wunsch entsprochen hatte, hörte sie ihn die Shorts ausziehen, auf den Boden werfen und schließlich den Reißverschluss der Hose schließen. Dann sagte er: »In Ordnung.«
Sie wandte sich ihm wieder zu, und sie schauten einander an. Er schien auf ihre Fragen gefasst zu sein, sich für sie gewappnet zu haben.
Doch sie war entschlossen, ihn ebenso zu überraschen, wie er sie überrascht hatte.
»War es ihretwegen?«
»Wen meinst du?«
»Mum. Du konntest nicht surfen und gleichzeitig ein Auge auf sie haben, also hast du mit dem Surfen aufgehört. Das ist der Grund, oder? Ich hab dich gesehen, Dad. Wie lang ist es her? Zwanzig Jahre? Oder länger?«
»Ja. Vor deiner Geburt.«
»Und du ziehst einfach deinen Neoprenanzug an, fährst da raus und nimmst die erstbeste Welle, die anrollt, einfach so? Völlig problemlos? Es war ein Kinderspiel für dich. So einfach wie das Laufen. Oder Atmen.«
»Ja. Meinetwegen. Du hast recht.«
»Und das heißt… Wie lange hast du gesurft, ehe du aufgehört hast?«
Ihr Vater hob das T-Shirt auf und legte es ordentlich zusammen, obwohl es völlig durchfeuchtet war. »Fast mein ganzes Leben«, antwortete er. »Das war es eben, was wir damals gemacht haben. Es gab keine Alternativen. Du weißt doch, wie deine Großeltern leben. Wir hatten den Strand im Sommer und im restlichen Jahr die Schule. Zu Hause wartete immer nur Arbeit auf uns, weil wir ständig dagegen ankämpfen mussten, dass das verdammte Haus in sich zusammenfiel. Aber wenn wir einmal Freizeit hatten, sind wir runter zum Strand… Wir hatten kein Geld, um in Urlaub zu fahren. Es gab noch keine Billigflüge nach Spanien. Es war anders als heute.«
»Aber du hast aufgehört.«
»Ich habe aufgehört. Manchmal verändern sich die Dinge, Kerra.«
»Ja. Sie ist aufgetaucht. Das war die Veränderung. Du hast dich mit ihr eingelassen, und als du erkannt hast, wie sie wirklich war, war es bereits zu spät. Du kamst nicht mehr von ihr los. Du musstest eine Wahl treffen, und du hast sie gewählt.«
»So einfach ist es nicht.« Er ging an ihr vorbei, aus der kleinen Kammer zurück in den größeren Geräteraum. Er wartete, bis sie ihm folgte, und als sie neben ihm stand, schloss und verriegelte er die Tür.
»Wusste Santo davon?«
»Wovon?«
»Hiervon.« Sie wies auf die Tür. »Du warst ziemlich gut, oder? Ich habe genug Surfer gesehen, um das erkennen zu können. Also, warum…« Plötzlich war sie den Tränen näher als je zuvor in den vergangenen schrecklichen dreißig Stunden.
Er blickte sie unverwandt an. Sie sah, dass er unsagbar traurig war, und diese Traurigkeit führte ihr vor Augen, dass sie zwar eine Familie sein mochten — früher zu viert, jetzt nur noch zu dritt, — aber auch nur dem Namen nach. Abgesehen von diesem gemeinsamen Namen, waren sie nichts weiter als ein Hort der Geheimnisse, und das waren sie auch schon immer gewesen.
Sie hatte geglaubt, all diese Geheimnisse hätten mit ihrer Mutter zu tun, mit deren Problemen und Phasen bizarrer Persönlichkeitsveränderung. Es waren Geheimnisse, die auch sie selbst lange gehütet hatte, denn man konnte kaum darüber hinwegsehen, wenn jede Heimkehr von der Schule einen mitten hinein in eine Situation führen konnte, die mitunter gerne als "ein bisschen peinlich" bezeichnet wurde. Kein Wort zu Dad, Liebling! Aber Dad wusste es ohnehin. Sie alle wussten es, aufgrund der Kleidung, die sie trug, der Neigung ihres Kopfes, wenn sie sprach — sie erkannten es am Rhythmus ihrer Sätze, am Trommeln ihrer Finger auf dem Tisch beim Essen und an der Rastlosigkeit in ihrem Blick. Und am Rot. Das Rot verriet sie immer. Für Kerra und Santo war diese Farbe stets die Ankündigung eines längeren Besuchs bei ihren Großeltern gewesen. »Was treibt die Schlampe denn jetzt schon wieder?«, hatte Granddad dann gefragt. Aber ihr Marschbefehl hatte immer gelautet: »Sagt euren Großeltern nichts davon, verstanden?« Und Kerra und Santo hatten sich daran gehalten. Sie waren loyal geblieben, hatten das Geheimnis gehütet, und früher oder später war wieder Normalität eingekehrt, was immer Normalität im Hause Kerne bedeuten mochte.
Doch jetzt erkannte Kerra, dass es immer schon mehr Geheimnisse gegeben hatte als nur die ihrer Mutter. Ein verborgenes Wissen, das über Dellens verschlungene Psyche hinausging und auch Kerras Vater betraf. Und diese erschütternde Erkenntnis führte Kerra einmal mehr vor Augen, dass es in ihrem Leben nie festen Grund gegeben hatte, auf den sie ihren Fuß hätte setzen können, um der Zukunft entgegenzuschreiten.
»Ich war dreizehn«, sagte sie schleppend. »Da war dieser Junge, den ich mochte. Stuart. Er war vierzehn und hatte furchtbare Pickel. Ich hatte ihn trotzdem gern. Die Pickel machten ihn irgendwie… unantastbar, verstehst du? Irgendwie… sicher. Nur war er das leider nicht. Eigentlich ist es komisch, denn ich bin nur mal kurz in die Küche gegangen, um uns ein paar Kekse und etwas zu trinken zu holen. Es hat keine fünf Minuten gedauert, aber das hat gereicht. Stuart hat gar nicht kapiert, was da passierte. Aber ich wusste es natürlich, war ich doch mit diesem Wissen aufgewachsen. Genau wie Santo. Nur war er tatsächlich sicher, denn — sind wir doch mal ehrlich — er war genau wie sie.«