»Es ist in erster Linie eine Frage der Ausgewogenheit«, resümierte Alan. »Das siehst du doch ein, oder, Liebling?«
Kerras Nackenhaare richteten sich auf. "Liebling" war einfach zu viel. "Liebling" gab es nicht. Sie war kein Liebling. Sie dachte, das hätte sie Alan klargemacht, aber dieser unmögliche Mensch weigerte sich einfach, es zu glauben.
Sie standen vor dem verglasten Schaukasten in der Eingangshalle des einstigen Hotels. Der Gegenstand ihrer Diskussion waren "Ihre Kursleiter" oder vielmehr das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Kursleitern. Es lag in Kerras Zuständigkeit, die Trainer einzustellen, und sie hatte eine Überzahl an Trainerinnen verpflichtet. Das sei aus verschiedenen Gründen unvorteilhaft, hatte Alan ausgeführt. Aus Marketingsicht brauchten sie ebenso viele männliche wie weibliche Kursleiter für die verschiedenen Aktivitäten vorzugsweise sogar mehr männliche als weibliche. Diese männlichen Trainer mussten ordentlich gebaut sein und gut aussehen, damit sie unverheiratete weibliche Gäste anlockten. Außerdem beabsichtige er, sie in einem Video einzusetzen. Er habe übrigens schon eine Filmcrew aus Plymouth gebucht, um das Video zu drehen, darum müssten alle Kursleiter, die Kerra einstellen wolle, in spätestens drei Wochen hier sein. Oder möglicherweise — dachte er laut — könnten sie Schauspieler nehmen… nein, Stuntmen. Ja, Stuntmen seien für das Video noch besser geeignet. Das werde zwar die Produktionskosten erhöhen, denn bestimmt würden Stuntmen nach einem festen Satz bezahlt, aber die Drehzeit mit Profis sei vermutlich kürzer, also wären die Kosten unterm Strich wohl gar nicht viel höher…
Er trieb sie in den Wahnsinn. Kerra hatte mit ihm streiten wollen, und sie hatten miteinander gestritten, aber er fand einfach auf jedes Argument eine Erwiderung.
»Die Publicity durch den Artikel in der Mail on Sunday hat uns enorm geholfen«, erklärte er nun. »Aber das war vor Monaten, und wir werden mehr tun müssen, wenn wir in die schwarzen Zahlen kommen wollen. Das werden wir natürlich nicht so schnell schaffen, nicht dieses Jahr und womöglich auch nicht nächstes, aber es geht darum, die Schulden zu tilgen. Also muss ein jeder von uns darüber nachdenken, wie wir uns am besten aus den roten Zahlen herausarbeiten können.«
Das war das Stichwort: Rot. Rot hielt Kerra gefangen zwischen dem Verlangen zu fliehen und dem Drang zu streiten. »Es ist doch nicht so, als weigerte ich mich, Männer einzustellen, falls es das ist, Alan, was du andeuten willst. Aber du kannst mir nicht die Schuld dafür geben, wenn sie sich nicht gerade dutzendweise bewerben.«
»Es geht doch nicht um Schuld«, versuchte er, sie zu beschwichtigen. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich mich tatsächlich gefragt, wie aggressiv du dich bemüht hast, männliche Bewerber zu finden.«
Natürlich überhaupt nicht aggressiv. Das konnte sie ja gar nicht sein. Aber hätte es etwa Sinn, ihm das zu erklären?
»Also schön«, sagte sie mit aller Höflichkeit, die sie aufbieten konnte. »Ich fange mit dem Watchman an. Wie viel können wir für eine Stellenanzeige ausgeben?«
»Oh, wir brauchen eine wesentlich größere Reichweite«, entgegnete Alan liebenswürdig. »Ich bezweifle, dass eine Annonce im Watchman uns irgendetwas nützt. Wir müssen die Stellen landesweit ausschreiben, in Fachmagazinen. Mindestens eine Anzeige für jede Sportart.« Er betrachtete das schwarze Brett, wo die Bilder der Kursleiter hingen. Dann sah er Kerra an. »Du verstehst meine Argumente doch, Kerra? Die Trainer sind mehr als einfach nur Trainer — sie sind ein Lockmittel. Sie sollen einer der wesentlichen Gründe sein, Adventures Unlimited überhaupt zu buchen. Wie die Tanzlehrer auf einem Kreuzfahrtschiff, verstehst du?«
»Kommen Sie zum Vögeln zu Adventures Unlimited«, schnaubte Kerra. »O ja, ich verstehe nur allzu gut.«
»Sex sells«, räumte Alan ein. »Das weißt du doch.«
»Natürlich. Letzten Endes läuft immer alles auf Sex hinaus«, erwiderte Kerra bitter.
Er starrte auf die Fotos. Entweder um sie einzuschätzen oder um Kerra auszuweichen. Schließlich sagte er: »Ja, wahrscheinlich. So ist das Leben.«
Sie ließ ihn ohne eine Antwort stehen. Über die Schulter teilte sie ihm noch mit, sie sei beim Watchman, falls irgendjemand nach ihr fragen sollte sie forderte ihn geradezu heraus, noch einmal darauf hinzuweisen, dass eine Annonce in diesem Blatt vollkommen sinnlos sei. Dann fuhr sie mit dem Fahrrad davon.
Dieses Mal hatte sie jedoch nicht die Absicht, so lange zu radeln, bis der Schweiß allen Kummer aus ihrem Körper herausgewaschen hatte. Ebenso wenig hatte sie die Absicht, zum Watchman zu fahren und dort eine Anzeige aufzugeben, um geile Männer anzuwerben, die gleichermaßen geilen Frauen tagsüber Unterricht erteilten und nachts ihre sexuellen Fantasien erfüllten. Das fehlte ihnen bei Adventures Unlimited gerade noch: ein Überschuss an Testosteron.
Kerra fuhr die Anhöhe hinab und am Toes on the Nose vorbei mitten hinein in das Einbahnstraßensystem der Stadt. Sie hielt sich hügelan, wo der St. Mevan Down von der See her aufstieg, dann weiter zur Queen Street, die auf beiden Seiten zugeparkt war, und schließlich bergab in Richtung Kanal. Jenseits seiner Kaianlage erhob sich eine Brücke und mündete in eine Straßengabelung. Hielt man sich links, gelangte man zur Widemouth Bay, fuhr man rechts entlang, kam man zur Mole. Die Mole verlief entlang der Südwestseite des Kanals, während die Kaianlage ihn im Nordosten begrenzte. Drüben erhob sich etwa fünf Meter oberhalb der Asphaltdecke eine Reihe Cottages, und ganz am Ende stand das größte der Häuschen, das nur ein Blinder hätte übersehen können: Es war flamingorosa angestrichen und mit einem Fuchsiaton abgesetzt. Es wurde Pink Cottage genannt wie uninspiriert!, und die Besitzerin war eine unverheiratete Dame, die bei den Bewohnern von Casvelyn seit jeher nur Busy Lizzie hieß, und das nicht allein wegen der fleißigen Lieschen, die sie jedes Jahr im Frühsommer in farbenfroher Üppigkeit in ihren Garten pflanzte.
Kerra war Busy Lizzie als regelmäßige Besucherin bekannt. Darum ließ die alte Dame sie anstandslos ein, als sie klopfte.
»Ja, das ist aber eine nette Überraschung, Kerra! Alan ist nicht da, aber ich nehme an, das wissen Sie.«
Sie war höchstens eins fünfzig groß, und sie erinnerte Kerra immer an eine Schachfigur. Genauer gesagt, sah sie aus wie ein Bauer. Das weiße Haar trug sie in einer kunstvoll gelegten edwardianischen Rolle, und sie hatte eine Vorliebe für hochgeschlossene elfenbeinfarbene Blusen und bodenlange Glockenröcke in Marineblau oder Grau. Sie erweckte stets den Eindruck, als hoffte sie, für eine Rolle in einer Henry-James-Verfilmung entdeckt zu werden, aber soweit Kerra wusste und das war nicht allzu weit, musste sie einräumen, hatte Busy Lizzie keinerlei Ambitionen zur Bühne oder Leinwand.
Sie vermietete eines der Zimmer in ihrem Haus — die übrigen waren mit Objekten ihrer Sammlung bestückt: Carlton-Porzellan aus den Dreißigern. Sie hatte liberale Ansichten und zog junge Männer jungen Damen als Mieter vor, denn, so sagte sie, mit einem Mann im Haus fühle man sich doch irgendwie sicherer. Allerdings war ihr bewusst, dass ihre Untermieter gewisse Bedürfnisse hatten, deren Erfüllung sie ihnen nicht untersagen durfte. Sie räumte ihnen das Mitbenutzungsrecht der Küche ein, und wenn morgens eine junge Dame am Frühstückstisch erschien, erhob Busy Lizzie keine Einwände. Vielmehr offerierte sie Tee oder Kaffee und fragte: »Gut geschlafen, Kindchen?«, so als gehörte jedwede junge Dame zum Haushalt.
Während sein Haus am Lansdown Close umgebaut wurde, wohnte Alan im Pink Cottage. Er hätte zu seinen Eltern ziehen und somit Geld sparen können; andererseits wollte er, so hatte er Kerra erklärt, auf gewisse Freiheiten nicht verzichten so sehr er seine Eltern auch liebte. Angesichts der verklärten Bewunderung, die seine Eltern ihm entgegenbrachten, war diese Entscheidung nicht sonderlich freudig zur Kenntnis genommen worden. Seine Eltern hätten eben ein gewisses Bild vom ihm, hatte er Kerra umständlich beizubringen versucht, das er nicht erschüttern wollte.