Sie verstand dies, genau wie er anzudeuten beabsichtigt hatte: »Sie glauben doch wohl hoffentlich nicht, dass du immer noch Jungfrau bist, Alan?« Und als er nicht antwortete: »Im Ernst, Alan?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Selbstverständlich glauben sie das nicht. Was für eine alberne… Sie wissen, dass ich normal bin. Sie sind eben ältere Herrschaften, und es ist eine Art Respektsbeweis ihnen gegenüber, dass ich unter ihrem Dach mit keiner Frau das Bett teile, solange ich noch nicht verheiratet bin. Sie würden das sehr… na ja… eigenartig finden.«
Kerra hatte dies akzeptiert, jedenfalls zu Anfang. Doch mit der Zeit hatte das ganze Thema von Alans Zimmer außerhalb seines Elternhauses einen merkwürdigen Beigeschmack bekommen.
Also musste sie Bescheid wissen. Sie musste sicher sein. Sie sagte zu Busy Lizzie: »Ich habe etwas in Alans Zimmer liegen lassen, Miss Carey« denn das war ihr richtiger Name, »und ich wollte fragen, ob ich mal eben hineinschlüpfen und es mir zurückholen kann? Alan hat vergessen, mir seinen Schlüssel mitzugeben. Wenn Sie ihn vielleicht im Büro anrufen möchten…?«
»Ach, das ist doch nicht nötig, mein Kind. Die Tür ist sowieso unverschlossen. Ich will nachher die Betten frisch beziehen. Sie kennen ja den Weg! Ich sitze gerade vor dem Fernseher. Hätten Sie vielleicht gern ein Tässchen Tee? Oder brauchen Sie Hilfe?«
Kerra lehnte beide Angebote höflich ab. Es werde nicht lange dauern, versicherte sie. Sie werde gleich wieder verschwinden, sobald sie gefunden hatte, weswegen sie gekommen war.
»Sie fahren bei diesem Regenwetter doch nicht etwa mit dem Fahrrad herum, Kindchen? Sie holen sich noch mal den Tod! Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine kleine Tasse Tee möchten?«
»Nein, nein danke«, wehrte Kerra ab. »Das ist wirklich nicht nötig, Miss Carey. Und außerdem ist es ja schon fast Mairegen — der macht bestimmt schön.«
Sie kicherten beide über ihren lahmen Scherz und trennten sich am anderen Ende des Wohnzimmers. Busy Lizzie setzte sich wieder vor den Fernseher, und Kerra bog in den Korridor ein, der zur Rückseite des Hauses führte.
Alans Zimmer bot einen Blick auf das südwestliche Ende von St. Mevan Beach. Die Flut hatte beinahe ihren Höchststand erreicht. Wellen brachen in etwa einem Meter Höhe, und in der Ferne sah Kerra wenigstens ein Dutzend Surfer auf dem Wasser. Sie wandte den Blick von ihnen ab; zu sehr erinnerten sie sie an den gestrigen Abend, an ihren Vater und daran, was es bedeuten mochte, dass er einen Teil seines Lebens vor ihr geheim gehalten hatte. Aber jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, um darüber nachzudenken; außerdem musste sie sich beeilen.
Sie suchte nach Indizien, ohne zu wissen, wie diese aussehen würden. Sie musste ergründen, warum der Alan Cheston der jüngsten Zeit nicht mehr derjenige Alan Cheston war, den sie einst kennengelernt und mit dem sie sich eingelassen hatte. Sie glaubte, den Grund zu kennen, aber sie brauchte Beweise. Was sie allerdings damit tun wollte, wenn sie sie fand, darüber hatte sie noch nicht nachgedacht.
Ebenso wenig hatte sie je zuvor ein Zimmer durchsucht. Sie fühlte sich schäbig, aber die einzige Alternative wäre gewesen, ihm vage Anschuldigungen an den Kopf zu werfen, und diesen Weg einzuschlagen, konnte sie sich nicht leisten.
Sie zog die Tür hinter sich zu und sah sich um. Alles hier war so typisch Alan, erkannte sie; jedes Teil stand ordentlich an seinem Platz: die Djembe-Trommel auf ihrem Ständer in der Ecke, davor ein Hocker, auf dem er saß, wenn er sie bei seinen täglichen Meditationen spielte. Das Tamburin, das Kerra ihm einmal im Scherz geschenkt hatte ehe sie begriffen hatte, welch zentrale Rolle die Trommel in Alans spirituellem Leben spielte, lehnte daneben an einem Regal, in welchem er seine Yogabücher verwahrte. Auf dem Bücherschrank die Fotos: Alan in der Robe eines Uniabsolventen, flankiert von seinen strahlenden Eltern. Alan und Kerra im Urlaub in Portsmouth. Sein Arm um ihre Schultern gelegt, standen sie an Deck der Victory. Kerra allein auf dem flachen Steindach des Lanyon Quoit. Ein kleiner Alan mit seinem Hund, einem Terriermischling, dessen Fell die Farbe rostiger Bettfedern hatte.
Das Problem war, dass Kerra keine Ahnung hatte, wonach sie eigentlich suchte. Sie wollte ein Zeichen, war sich aber nicht sicher, ob sie es würde erkennen können, wenn es ihr nicht in Neonbuchstaben entgegenleuchtete. Sie durchkämmte das Zimmer, öffnete die Schubladen, zuerst an der Kommode, dann unter dem Schreibtisch. Abgesehen von Kleidungsstücken in gedeckten Farben, war das einzig Interessante, was sie fand, eine Sammlung von Geburtstagskarten, die sich über Jahre angehäuft hatten, und eine Liste mit dem Titel "Fünfjahresplan". Er gedachte neben einigen anderen Herausforderungen, Italienisch zu lernen, Xylophonunterricht zu nehmen, Patagonien zu bereisen und Kerra zu heiraten. Letzteres kam noch vor Patagonien, aber nach Italienisch.
Schließlich entdeckte sie es; etwas, was im Zimmer eines Mannes, für den jeder Gegenstand zweckdienlich zu sein hatte sei es in der Vergangenheit, der Gegenwart oder in der Zukunft, schlicht und ergreifend fehl am Platz war: eine Ansichtskarte. Sie steckte hinter den Schreiben von Alans Bank, seinem Zahnarzt und der London School of Economics in einem vorsintflutlichen Serviettenhalter. Das Bild darauf war von der See aus aufgenommen und zeigte eine Bucht und dahinter die Steilküste, in die sich in einigem Abstand voneinander zwei tiefe Höhlen bohrten. Oberhalb der Felskante lag ein Dorf, das Kerra nur allzu bekannt war. Dorthin waren sie und ihr Bruder in ihrer Kindheit regelmäßig geschickt worden, um bei den Großeltern zu wohnen, wenn ihre Mutter eine ihrer Phasen durchlief.
Pengelly Cove. Sie hatten dort nie an den Strand gehen dürfen, ganz gleich bei welchem Wetter. Der Grund, den man ihnen genannt hatte, waren die Flut und die Höhlen. Die Flut stieg hier ebenso schnell an wie in der Morecambe Bay. In den Höhlen fühlte man sich sicher, wenn man sie erforschte oder sich einfach nur neugierig darin umsah doch wenn die Flut einsetzte, strömte das Wasser in einem ungeheuerlichen Tempo hinein, und die Wände zeigten, wie hoch es anstieg: weit über mannshoch, und es war ebenso unbarmherzig wie gnadenlos.
In diesen Höhlen sind Kinder wie ihr elendiglich ersoffen, hatte Granddad immer gebellt. Ihr geht nicht zum Strand, solange ihr hier seid! Außerdem gibt es hier Arbeit genug, um euch zu beschäftigen, und wenn ich sehe, dass ihr euch langweilt, dann gnade euch Gott.
Aber all das war nur eine Ausrede gewesen, und Kerra und Santo hatten dies auch gewusst. Zum Strand zu gehen bedeutete, ins Dorf zu gehen, und im Dorf waren sie bekannt als die Kinder von Dellen Kerne. Oder Dellen Nankervis, wie sie früher geheißen hatte. Die verrufene, lasterhafte Dellen, die Dorfschlampe. Dellen, deren unverwechselbare Handschrift in Rot die Vorderseite der Postkarte in Alans altem Serviettenständer zierte: Hier ist es. Von dem "es" führte ein Pfeil zu der Höhle am Südrand der Bucht.
Kerra steckte die Postkarte in die Tasche und sah sich nach weiteren Beweisen um. Aber eigentlich brauchte sie nicht mehr.
Cadans Mund fühlte sich an wie das Suspensorium eines Ringers, und sein Magen schlug in einem fort Purzelbäume. Den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, war sein Plan gewesen, um in die Gänge zu kommen, aber ein unerwartetes Zusammentreffen mit seiner Schwester noch vor der Arbeit hatte verhindert, dass er sich auf die Suche nach den Schnapsvorräten seines Vaters machen konnte. Nicht dass Madlyn Cadan verpfiffen hätte, wenn sie ihn beim Durchsuchen der Schränke ertappt hätte. Auch wenn sie launisch war, war Cadans Schwester doch nie eine Petze gewesen. Aber sie hätte gewusst, was er im Schilde führte, und ihm entsprechend zugesetzt. Und das hatte er nicht ertragen können. In seinem Zustand war es schon schwierig genug gewesen, angemessen auf ihre Äußerungen zu reagieren, ohne selbst Gegenstand dieser Äußerungen zu sein. Doch Madlyn hatte sich über Ione Soutar ausgelassen, die im Laufe der vergangenen sechsunddreißig Stunden unter verschiedenen Vorwänden dreimal angerufen hatte.