Er hatte nicht hinterfragt, was dieser Eskapade zugrunde gelegen hatte. Doch als sein Kater abklang — ein willkommenes Ereignis, das sich leider erst am frühen Nachmittag einstellte, — erkannte er, dass er gefährlich nahe daran war, nachdenken zu müssen.
Worüber er schließlich nachdachte, waren sein Vater, Madlyn und Santo Kerne. Aber ihm gefiel nicht, wohin seine Gedanken führten, als er diese drei Menschen in seinem Kopf zusammenbrachte, weil die Konstellation plötzlich und unerwartet zu einem unliebsamen weiteren Gedanken führte — dem Gedanken an Mord.
Madlyn verliebt. Madlyns Herz gebrochen. Santo tot. Lew Angarrack… was? Draußen, mit seinem Surfbrett an einem Tag, da nicht eine einzige Welle gekommen war, die es wert gewesen wäre zu surfen. Stundenlang verschwunden und bei seiner Rückkehr auffallend zugeknöpft in Bezug auf seinen Aufenthaltsort. Wenn man diese Beobachtungen kombinierte, wohin führte dies nur? Die verschmähte Tochter? Der erzürnte Vater? Cadan wollte lieber nicht weiterdenken.
Also grübelte er stattdessen über Will Mendick nach. Will, dessen Liebe zu Madlyn unerschütterlich war. Dessen unerwiderte Liebe. Der nur darauf wartete, als Tröster auf den Plan zu treten, sowie Santo Kerne aus dem Weg war.
Aber hatte Will Zugang zu Santos Kletterausrüstung gehabt?, überlegte Cadan. Und war Will der Typ, der einen derart listigen Plan fassen konnte, um jemanden loszuwerden? Selbst wenn er beide Fragen mit Ja beantworten müsste, war die eigentliche Frage doch: War Will wirklich so scharf auf Madlyn, dass er Santo ins Jenseits befördern könnte, in der Hoffnung, bei ihr zum Zuge zu kommen? Ergab das alles überhaupt Sinn? Warum sollte er Santo aus ihrem Leben tilgen wollen, nachdem Santo dies doch bereits selbst erledigt hatte? Es sei denn, Santos Tod hatte überhaupt nichts mit Madlyn zu tun… Und wäre das nicht eine kolossale Erleichterung?
Aber wenn er mit Madlyn zu tun hatte, was war dann mit Jago? Jago in der Rolle des greisen Rächers. Wer würde einen alten Knacker verdächtigen, den es so schüttelte wie einen Martini in der Hand eines gestressten Barkeepers? Jago war doch kaum fit genug, ohne Hilfe aufs Klo zu gehen, ganz zu schweigen von der Verfassung, die notwendig zu sein schien, um einen anderen Menschen umzubringen. Nur war es aber ja ein ferngesteuerter Mord gewesen. Wenn man Kerra Kerne Glauben schenkte, war Santos Ausrüstung manipuliert worden. Das hätte Jago zweifelsohne hingekriegt. Aber das galt für jeden anderen auch. Für Madlyn zum Beispiel. Oder für Lew. Oder Will. Für Kerra Kerne oder Alan Cheston oder den Weihnachtsmann oder den Osterhasen.
Cadans Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Es war noch zu früh, um über irgendetwas ernsthaft nachzudenken — noch war der Kater nicht vollends abgeklungen. Seit er heute Morgen zur Arbeit gekommen war, hatte er noch keine Pause gemacht, und jetzt hatte er eine verdient. Ein bisschen frische Luft und ein Sandwich würden ihm vielleicht ermöglichen, mit klarerem Kopf über diese ganze Sache nachzudenken.
Pooh war geduldig gewesen. Ohne den geringsten Schaden anzurichten, hatte er Cadan stundenlang beim Anstreichen der Heizkörper zugesehen, während er auf einer Duschvorhangstange nach der anderen hockte und nur ein einziges Mal sein Geschäft verrichtet hatte. Auch er hatte ein bisschen Erholung verdient und sicher nichts gegen einen Happen einzuwenden.
Cadan hatte sich nichts zu essen von zu Hause mitgebracht, und er dachte kurz nach. Im Toes on the Nose würde er sich etwas zu essen zum Mitnehmen kaufen können. Jetzt da sein Magen sich wieder im Normalmodus befand, klang Thunfisch und Mais auf Vollkornbrot gar nicht übel und dazu eine Tüte Chips und eine Cola.
Vorher musste er nur noch sein Malerwerkzeug ins benachbarte Gästezimmer bringen, wo der nächste Heizkörper auf ihn wartete. Das war schnell erledigt. Er machte sich auf den Weg zur Treppe, die er dem stöhnenden alten Lift entschieden vorzog, in dem er offen gestanden immer das Grausen kriegte. Er legte Pooh seine Pläne dar: »Toes on the Nose, und benimm dich gefälligst! Kein Fluchen vor den Damen!«
»Welche Damen meinen Sie?«
Cadan fuhr herum. Aus dem Nichts war Santo Kernes Mutter aufgetaucht, als wäre sie ein Geist, der geradewegs aus der Holzvertäfelung der Wände getreten war. Lautlos kam sie über den neuen Treppenläufer auf ihn zu. Sie trug wieder Schwarz, aber heute war es mit einem duftigen roten Seidenschal aufgehellt, der exakt dieselbe Farbe hatte wie ihre Schuhe.
Unwillkürlich fühlte Cadan sich an Der Zauberer von Oz erinnert: die Episode mit den zwei alten Hexen, die über ein Paar rote Schuhe stritten. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, und Dellen lächelte zurück.
»Sie hatten ihm nicht verboten, vor mir zu fluchen.« Sie hatte die rauchige Stimme einer Bluessängerin.
»Bitte?«, fragte er unsicher.
»Ihrem Vogel. Als Sie uns miteinander bekannt gemacht haben. Da sagten Sie nichts davon, dass er in meiner Gegenwart nicht fluchen dürfte. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll, Cadan. Bin ich vielleicht keine Dame?«
Er hatte keinen Schimmer, was er darauf erwidern sollte, also lachte er halbherzig. Er wartete darauf, dass sie weiterging. Aber das tat sie nicht.
»Ich gehe was essen«, erklärte er.
Sie schaute auf die Uhr. »Ziemlich spät, oder?«
»Ich hatte bis eben keinen Hunger.«
»Aber jetzt schon?«
»Ein bisschen, ja.«
»Kommen Sie mit!«
Sie ging zur Treppe, stieg aber nicht hinab. Stattdessen wandte sie sich nach oben, und als er nicht umgehend folgte, drehte sie sich um.
»Kommen Sie mit, Cadan«, forderte sie ihn erneut auf. »Ich beiße nicht. Wir haben oben eine Küche, und da zaubere ich irgendetwas für Sie.«
»Oh. Ist schon okay«, wehrte er ab. »Ich wollte gerade zum Toes…«
»Seien Sie nicht albern! Das hier geht schneller, und es kostet nichts.« Sie lächelte versonnen. »Jedenfalls kein Geld. Nur Gesellschaft. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann.«
»Vielleicht Kerra…«
»Sie ist nicht hier. Und mein Mann ist ebenfalls verschwunden. Alan hat sich mit seinem Telefon im Büro verbarrikadiert. Kommen Sie, Cadan.«
Er rührte sich nicht vom Fleck, und ihre Augen verdunkelten sich. »Sie müssen essen, und ich muss reden. Wir tun uns gegenseitig einen Gefallen.« Und als er sich immer noch nicht bewegte, weil ihm einfach nicht einfiel, wie er sich aus dieser Situation befreien konnte, fügte sie hinzu: »Ich bin die Frau Ihres Chefs. Ich glaube, Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als meiner Bitte zu folgen.«
Obwohl er mitnichten amüsiert war, lachte er leise. Es schien ihm tatsächlich nichts anderes übrig zu bleiben, als mit ihr nach oben zu gehen.
Sie stiegen die Treppe hinauf und gelangten in die Wohnung der Kernes. Sie war großzügig bemessen, aber bescheiden möbliert, in einem Stil, der einmal Dänisch modern geheißen hatte, heute aber eher Dänisch retro war. Sie führte ihn durchs Wohnzimmer in die Küche, wo sie auf den Tisch wies und ihn aufforderte, daran Platz zu nehmen. Dann schaltete sie das Radio auf der makellosen weißen Arbeitsplatte ein und fingerte an den Knöpfen herum, bis sie einen Sender gefunden hatte, der ihr zuzusagen schien. Er spielte Tanzmusik Swing. »Das ist hübsch, oder?«, fragte sie und drosselte die Lautstärke. »Also.« Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Was darf's sein, Cadan?«